Verdachtsberichterstattung ist ein Begriff, der oft für Erklärungen genutzt wird. Er wiegt schwer und gilt schon nach vermuteten Straftaten. Er hat Konsequenzen, die mit dem ersten Bericht darüber einsetzen und erst mit einem rechtskräftigen Urteil enden. Und in diesem Urteil wird letztlich auch erst festgestellt, ob es tatsächlich um eine Straftat gehandelt hat. Diese richterliche Entscheidung darf dann in der Presse als Wahrheitsbeweis angesehen werden. - Hier eine vorwiegend formale Darstellung der Rechtssituation.
Nicht vorverurteilen
Im Zeitraum vor der abschließenden richterlichen Entscheidung dürfen Verdächtige nicht in der Berichterstattung (vor-) verurteilt werden, auch nicht, wenn die Beweislage als erdrückend erscheint. So kommt es meist zu Formulierungen wie „mutmaßlich“. Nicht erlaubt sind dabei einseitige Darstellungen und das Verschweigen entlastender Umstände.
Informationsbedürfnis der Bevölkerung
Aber über Strafanzeigen und die ihnen zugrunde liegenden Vorwürfe darf auch ohne hinreichende Verdachtsgründe berichtet werden, wenn das von einem Informationsbedürfnis der Bevölkerung getragen wird. Trotzdem bedarf es dazu eines „Mindestbestandes an Beweistatsachen“. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens reicht alleine nicht aus. Das alles hat die Rechtsprechung schon gesagt. Die lässt auch eine Identifizierbarkeit von Verdächtigen selten zu, wenn es sich nicht um einen Promi handelt. Eine Entscheidung darüber setzt eine sorgfältige Abwägung in Redaktionen voraus.
Die juristischen Darstellungen sind dem "Handbuch des Presserechts" (Ricker/Weberling) 6. Auflage, Kapitel 53, Abschn. 39 entnommen.
Schwierige Abwägung
Eine ethische Erklärung liefert Richtlinie 8.1 im Kodex des Deutschen Presserates. Die sagt im Wesentlichen, dass „Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur veröffentlicht werden, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt.“ Bei dieser schwierigen Abwägung sind unter anderem die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des Vorwurfs, der Verfahrensstand und der Bekanntheitsgrad des Verdächtigen oder Täters zu beachten.
Zusammenhang oder Widerspruch
Überwiegendes öffentliches Interesse erkennt der Kodex, wenn u.a. „eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat vorliegt oder wenn ein Zusammenhang bzw. Widerspruch besteht zwischen Amt, Mandat, gesellschaftlicher Rolle oder Funktion einer Person und der ihr zur Last gelegten Tat.“
Die Rehabilitation
Was ist, wenn sich herausstellt, dass an Vorwürfen nichts oder wenig dran ist und ein Verdächtiger frei gesprochen wird? Im Hinblick auf die Person, die einem aktuellen Würzburger Fall der Beteiligung an Kinderpornografie verdächtig ist, schreibt mir Leser W.H. zweifelnd: „Die MP wird dann ja sicherlich mit dem gleichen Engagement und ebensoviel Platz <…> wie bisher die Rehabilitation der Person betreiben, nicht wahr?“ Das ist ein wichtiger Satz.
Ja, ein Freispruch müsste angemessen und unübersehbar dargestellt werden. Das ist aber kaum im gleichen Umfang in einer Zeitung machbar. Sinnvoll wäre es auch nicht. So wie in der Berichterstattung über ein lange anhaltendes Verfahren alle vorgebrachten Vorwürfe und Diskussionen noch einmal, das dann sogar mehrfach, zu wiederholen, wäre kaum entlastend oder ein echer Beitrag zur völligen Rehabilitation.
Lesen Sie hier zum Würzburger Verfahren wegen Kinderpornografie über die Herausforderung für die Redaktion.
Ähnliche und ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:
"Auch vor der Namensnennung gilt: Im Zweifel für den Angeklagten" (2016)
"Wenn der Richter dem Journalisten die Recherche bereits abgenommen hat" (2010)
"Was ein Verhältniswort vor dem Urteil für Leser und Angeklagte bedeutet" (2014)
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de