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LESERANWALT
Leseranwalt: Wie die Pleitewelle den Hoffnungsschimmer in einem Artikel überrollt
Ein Leser kritisiert die Überschrift eines Berichts über Insolvenzen: Sie erzeuge Ängste. Anton Sahlender erklärt die unausgewogene Gewichtung - und wie es besser geht. 
Wenn die Ausgewogenheit fehlt: Die schlechten Nachrichten erdrücken eine erfreuliche.
Foto: Illustration Anton Sahlender | Wenn die Ausgewogenheit fehlt: Die schlechten Nachrichten erdrücken eine erfreuliche.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.09.2024 18:00 Uhr

Chefredakteur Ivo Knahn hat das Jahr 2024 nachdenklich eröffnet: "Wo bleiben die guten Nachrichten? Sie sind fast überall, aber wir sehen sie zu selten". Selbstreflexiv schreibt er, was dazu führen kann, dass Menschen Nachrichten überhaupt vermeiden: "Journalisten tun sich oft schwer damit, über Dinge zu berichten, die gut laufen. Dabei wäre genau das nötig, um die Welt realistischer abzubilden."

Exemplarisch ist es, wenn Leser K.L. einen Artikel auf der Titelseite der Zeitung vom 18. Juni kritisiert. Der erzeuge Ängste, schon mit seiner Schlagzeile: "Droht doch noch eine Pleitewelle?"

Leser K.L. erklärt: "Unausgewogen"

Die steigende Zahl der Insolvenzen von Unternehmen ist in dem "Pleitewellen"-Artikel ausführlich dargestellt. Auf vier Spalten, so beschreibt das Herr K.L., werden Statistiken bemüht, strukturelle Veränderungen als wirtschaftlicher Niedergang beschrieben und negative Prognosen aufgeführt. Das sei unausgewogen, erklärt er. Denn im letzten kleinen Absatz erscheine plötzlich ein Hoffnungsschimmer für das Gewerbe, der bis dahin keine Rolle gespielt hat: "Die Zahl der Anmeldungen liegt über der Zahl an Abmeldungen."

Autor erklärt: Insolvenzwelle für große Firmen sehr gravierend

Weshalb vorher die Stimmungsmache? Die fragt der Leser angesichts der Botschaft zu den Gewerbe-Anmeldungen. Ich bediene mich der Worte von Chefredakteur Ivo Knahn bei meiner Nachfrage: Hat sich der Autor, der Mitarbeiter der Augsburger Allgemeinen ist und nicht die Überschrift in der Main-Post gemacht hat, schwer getan, das in den Vordergrund zu stellen, was gut läuft?

Wie viel Firmenpleiten gab es zuletzt - und wie viele neue Gewerbeanmeldungen?  In einem Artikel über Insolvenzen nahmen positive Zahlen eine Randrolle ein. 
Foto: Jonas Walzberg, dpa | Wie viel Firmenpleiten gab es zuletzt - und wie viele neue Gewerbeanmeldungen?  In einem Artikel über Insolvenzen nahmen positive Zahlen eine Randrolle ein. 

Der Kollege antwortet mir mit einem sachlichen Grund für seine Gewichtung: Der Fokus liege auf der Insolvenzwelle, weil die gerade für große Firmen als sehr gravierend ausfalle. So wie der Fall Galeria, der in Städten Sorge bereite. Und die Insolvenz von Weltbild bedrohe rund 500 Arbeitsplätze, die von Esprit werde sicher die Schließung vieler Filialen nach sich ziehen.

Dennoch war in der gedruckten Ausgabe der Augsburger Allgemeine der Beitrag weniger zugespitzt getitelt: "Immer mehr Firmen müssen aufgeben". Online hieß es freilich auch: "Kommt jetzt doch die Pleitewelle?"

Nachrichtlich deckungsgleich hat der Autor der Deutschen Presseagentur (dpa) berichtet: "Mehr Firmenpleiten und keine Trendwende in Sicht".

Eine höher bewertete Realität: Drohendes steht über dem positiven Aspekt

Die neuen Gewerbe dagegen, so bewertet mir der Autor den letzten hoffnungsvollen Absatz, die seien anfangs sehr klein, etwa wie Steuerberater, die sich selbständig machen. So könnte es seiner Meinung nach unter dem positiven Titel "Mehr Gewerbeanmeldungen als -abmeldungen" seltsam wirken, wenn man am Ende dann schreiben müsse: "In Deutschland steigt die Zahl an Insolvenzen, es sind tausende Arbeitsplätze bedroht."

So konstatiere ich: Hier erdrückt eine journalistisch höher bewertete Realität den erfreulichen Aspekt. Schlechte Nachrichten erdrücken eine gute. 

Eine Einordnung, die es für die Leser nicht gab

Die Leserkritik verliert darüber nichts an Gewicht. Denn mindestens einer erklärenden Einordnung der Gewerbeanmeldungen hätte es bereits unter der bedrohlichen Schlagzeile auf dem Titel vom 18. Juni bedurft. Diese hilfreiche Transparenz gab es für die Leserschaft aber nicht. So musste das erfreuliche Artikelende positiv nahezu wirkungslos untergehen und tatsächlich eher merkwürdig erscheinen. Es wurde von der Pleitewelle sprichwörtlich überrollt. Dass Transparenz Vertrauen schafft, lässt sich dem Digital News Report 2024 des Reuters Institute entnehmen.

Der Ansatz, öfter die "guten Nachrichten" in den Fokus zu rücken, der bleibt bestehen. Der ist Main-Post Redaktionslinie, bestätigt der Stellvertreter des Chefredakteurs, Achim Muth . Er räumt aber ein, dass das "halt nicht immer durchzuhalten" ist. Das gilt wohl gleichermaßen für die Redaktion in Augsburg.

Wegweiser zum Positiven gibt es in den lokalen Nachrichten

Als Gegengewicht zu bedrohlichen Nachrichten, deren Verbreitung sich leider auch redaktionell nicht abstellen lässt, will ich mindestens noch einen Wegweiser zum Positiven aufstellen. Von neuen Gewerben und den Hoffnungen kleiner, innovativer und mutiger Unternehmer, gibt es nämlich durchaus ebenfalls etwas mehr zu lesen. Ihr Pioniergeist findet sich immer wieder in lokalen Berichten.

Bleiben Sie aufmerksam. Lesen lohnt. Das bringt näher, was Ivo Knahn geschrieben hat: "Angesichts der erdrückenden Nachrichtenlage wünschen sich viele ein Gegengewicht – und etwas Zuversicht."

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Leseranwalt-Kolumnen zu positiven und negativen Nachrichten:

Dez. 2023: "Wie schlechte Nachrichten erträglicher ankommen können"

Dez. 2022: "Plädoyer für menschliche Kostbarkeiten zwischen unerfreulichem Inhalt"

Okt. 2022: "Schnappen Sie sich eine Zeitung und vermitteln Sie auch schlechte Nachrichten verträglich!"

Nov. 2021: "Eine Buch-Empfehlung, damit es beim Lesen im Gehirn 'Plopp' macht"

Aug. 2017: "Warum denn nicht? Bambis Geburtstag ganz vorne"

Aug. 2016: "Gute und schlechte Nachrichten: Ein Frage der Perspektive"

und "Wird der Zustand der Welt zu schlecht eingeschätzt"

Dez. 2015: "Wahrhaftige Darstellung von Wirklichkeit kann zur sprachlichen Grausamkeit werden"

 
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Kommentare
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  • Anton Sahlender
    Danke, Herr Fritsch. Ja, Journalistinnen und Journalisten müssen sogar „schreiben was ist“! Hier geht es dabei konkret um die Frage, ob in einem Artikel ein Teil des „Ist“ etwas zu kurz kam. Und es ist wichtig, dass sich Journalisten mit solchen Fragen der Darstellung - zuweilen auch erkennbar fürs Publikum - stets auch selbstreflexiv auseinandersetzen. Und Transparenz ist dabei ein Baustein für Glaubwürdigkeit - kein Nanny-Journalismus.
    Anton Sahlender, Leseranwalt
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  • Werner Fritsch
    Journalisten sollten schreiben dürfen "was ist". Der Leser soll sich selbst ein Bild machen dürfen und selbst die Lage beurteilen. Dazu gehört auch die kritische Berichterstattung über wirtschaftliche Entwicklungen und Tatsachen. Ein Leser muss m.E. es auch ertragen, wenn etwas als bedrohlich einzustufen ist. "Nanny-Journalismus" braucht es nicht.
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