Ein Leser macht mich auf Probleme seiner Mutter mit Zeitungsberichten über negative Ereignisse aufmerksam, die andere Menschen gleichermaßen betreffen können. Dazu habe ich einen Vorschlag, der über den Vorlesetag der "Stiftung Lesen" hinaus gehen kann.
Leser P. überfordert mich zunächst etwas, weil er mich in seiner Zuschrift für zuständig dafür hält, "wie Senioren die Nachrichten verarbeiten können". Was er tatsächlich will, macht er mir aber am Beispiel seiner über 90-jährigen Mutter verständlich. Die lese täglich diese Zeitung. Aber nicht nur sie könne mit Berichten über Covid, Krieg, drohenden Hungersnöten oder anderen negativen Ereignissen nicht mehr umgehen. Folge, so P., seien auch Depressionen.
Aber über den Willen von Senioren mit solchen Problemen will er sich nicht hinwegsetzen. Er will ihnen ihre gewohnten Medien nicht vorenthalten. Deshalb schlägt der besorgte Sohn vor, doch die Zeitung zumindest in Teilen so zu gestalten, dass sie diese Senioren verstehen und einordnen können. Er meint, der damit verbundene erheblich größere Aufwand wäre angesichts des Altersdurchschnitts der Leserinnen und Leser von Zeitungen sinnvoll.
Digitale Angebote an langjährige Zeitungsleser kaum vermittelbar
Nachvollziehbar erscheint das, obwohl die meisten Senioren die täglichen unerfreulichen Nachrichten, deren Ursache nicht in der Zeitung zu finden ist, wohl noch zu ertragen wissen. Doch muss der Vorschlag von P., andere Ausgaben für die zu liefern, die das nicht mehr schaffen, leider unerfüllt bleiben. So sehr er sich das wünschen mag: Technisch ist das nicht umsetzbar. Nach Gesprächen an entscheidenden Stellen war mir das bald klar. Manche andere gut denkbare Neuerung der Zeitung ist da schon an Grenzen gestoßen. Am ehesten wären wohl spezielle Angebote digital machbar. Die sind aber langjährigen Zeitungsleserinnen und Lesern erfahrungsgemäß kaum zu vermitteln.
Natürlich achtet die Redaktion schon grundsätzlich darauf, schlechte Nachrichten zwar realistisch, aber verträglich darzubieten, also möglichst nicht sensationslüstern, skandalisierend oder blutrünstig. Doch reicht das nicht aus, weil die unverträglichen Botschaften meist erst in den Köpfen sensibel gewordener Empfänger entstehen.
Die Stiftung Lesen und ihr Vorlesefest
Nun werde ich aktuell auf die "Stiftung Lesen" aufmerksam. Die ruft nämlich für Freitag, 18. November 2022, zusammen mit der Deutschen Bahn Stiftung und der Wochenzeitung "Zeit" wieder zum Vorlesefest auf. Motto: "Gemeinsam einzigartig". In diesem Rahmen kann ich mir bestens Aktionen auch für jene Menschen vorstellen, um die es Leser P. geht. Denn neben der Gemeinschaft soll die Individualität des und der Einzelnen im Fokus stehen. Zurecht heißt es da: "Respektvolles Zusammenleben und Wertschätzung untereinander sind wichtige Bestandteile einer demokratischen Gesellschaft". Teil davon sind Senioren, die oft noch selbst die Vorleser in der Familie gewesen sein mögen und nun unter schlechten Nachrichten leiden.
Wer es versuchen will, kann sich zum Vorlesetag melden
Auch Herrn P. habe ich ob seiner Mutter die "Stiftung Lesen" ans Herz gelegt, weil die sich dem ehrenamtlichen Vorlesen widmet, wenn auch vorwiegend für die jüngere Generation. Ich bin so frei, und gestalte den Slogan der Veranstalter des Vorlesetages hier im Sinne der von P. vorgebrachten persönlichen Konflikte langjähriger älterer Zeitungsleserinnen und -leser mit schlechten Nachrichten einfach etwas um: "Wer Spaß am Vorlesen hat, schnappt sich eine Zeitung und liest daraus vor". Verträgliche Vermittlung und gute Gespräche über die Nachrichten sind nicht nur bei psychisch belasteten Menschen hilfreich. Ob es eines Psychologen bedarf, wie von P. der Redaktion für die Nachrichtengestaltung vorgeschlagen, muss jede/r im Einzelfall beurteilen. Wer es beim Vorlesen mit der Zeitung nicht nur mit der jungen Generation versuchen will, meldet sich sich am besten auch schon bei www.vorlesetag.de.
Zum Vorlesen aus dieser Zeitung, mit Erklärungen und Einordnungen, stehe ich über den Vorlesetag hinaus nach Terminvereinbarung über leseranwalt@mainpost.de ebenfalls bereit.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch: Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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