Wenn Sie das Leben verstehen möchten, müssen Sie bei sich selbst anfangen. Das Wie und Warum erklärt ein Buch, das ich Ihnen ganz in wissenschaftlichem Sinne seiner Autorin nicht ans Herz, sondern ans Hirn lege. Sie erfahren darin nämlich von Funktionen Ihres Gehirns, die allen gemeinsam und doch individuell sind.
Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner weist in ihren Buch "Raus aus der ewigen Dauerkrise" Wege, um den eigenen hinderlichen Voreinstellungen und Verzerrungen zu entkommen. So können wir in der Gesellschaft wirken, weil wir damit beginnen, aktiv zu Strukturen beizutragen, die es jedem Individuum besonders einfach machen, gesund und glücklich zu leben. So habe ich die Autorin verstanden, die das auch als ein Ziel ausgibt.
Das soziale Wesen Mensch
Urner schreibt, dass Menschen soziale Wesen sind, die ständig im Austausch mit der sozialen Umwelt stehen. Wie dabei Neugierde, Mut, dynamisches Denken und Weisheit helfen, erschließt sie ebenfalls. Ich füge hinzu, dass es damit sogar gelingen kann, Nachrichten im Kopf mit richtigen Botschaften zu verarbeiten.
Grundsätzlich will Urner den Kreislauf zwischen "denen da oben" und "wir hier unten" als einen von Menschen selbst geschaffenen Gegensatz auflösen. Sie spricht damit Politik oder Bürger, Unternehmer oder Verbraucher gleichermaßen an. Ich füge Medien und Öffentlichkeit hinzu.
Wissenschaftliches Gesamtbild
Die Autorin und Hochschullehrerin Urner formt locker erzählend aktuelle Gehirnforschung, Psychologie und Kommunikationswissenschaft gut verständlich zu einem nachvollziehbaren Gesamtbild. Wir haben Urner bereits 2019 über ihren Bestseller "Schluss mit dem täglichen Weltuntergang" kennengelernt, in dem sie zum konstruktiven Journalismus hinführt. Hier vorgestellt im Dezember 2019 unter der Überschrift, "Erkennen Sie, was Nachrichten mit ihrem Gehirn machen".
Kein Recht auf eigene Fakten
Nun hilft uns die Wissenschaftlerin wieder ein Stück weiter, sie hat aus vielen Vortragsanfragen einen Bedarf erkannt. Sie erklärt, wie wir täglichen Ängsten die Stirn bieten können, und damit auch unserem nicht mehr überlebensfördernden "Steinzeithirn", das keine Unsicherheit mag.
Ein Grund findet sich darin für den schlechten Umgang mit Wissenschaft, die eben kein fester Zustand, sondern ein ständiger Prozess mit Unsicherheiten ist: "Die wenigsten Dinge im Leben sind in Stein gemeißelt." Vehement wendet sie sich aber dagegen, das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten zu verwechseln.
Gruppendenken bestimmt Verhalten
Objektivität beschreibt Urner als Fata Morgana, die sich in Luft auflöse, sobald wir ihr scheinbar näherkommen. Der Negativitäts-Bias sorge dafür, dass wir alle mehr auf Negatives achten und der Bestätigungsfehler lasse uns Aussagen eher für wahr halten, wenn sie zu unseren Überzeugungen passen. Und unser Gruppendenken, evolutionsbiologisch auch als Stammesloyalität bezeichnet, sei für unser Verhalten gegenüber anderen verantwortlich. Darin können wir uns selbst kritisch begegnen.
Emotionen machen handlungsfähig
Zu den Irrungen, denen wir unterliegen zählt Urner die Trennung von Gefühl und Verstand. Beides sitzt nämlich zusammengehörig im Gehirn, nichts davon im Herz, sage die aktuelle Neurowissenschaft. So würden uns Beschädigungen der Hirnregionen, die Emotionen verarbeiten, entscheidungs- und handlungsunfähig machen. Die Autorin lässt uns selbst gefühlvoll an allem teilhaben, was ihr Gefühle, Verstand und Wissenschaft sagen.
Eine Gebrauchsanweisung für den Kopf
Die zweite Hälfte ihres Buches gibt gleich einer Gebrauchsanweisung für unsere Köpfe einige Antworten auf die Frage: Was kann ich tun? Und ein Ratschlag lautet, statt sich gegen etwas einzusetzen, öfter für etwas zu sein, etwa für eine lebenswerte Zukunft, für Gerechtigkeit, für Regeneration und Einfallsreichtum.
Das sei keine Gefühlsduselei, denn unser Denken bestimme nicht nur, wie wir die Welt generell sehen, sondern auch, wie wir unsere eigene Rolle darin wahrnehmen. Unsere mentale Welt sei der Ursprung unserer Motivation und damit auch unserer Energie und Handlungsfähigkeit.
Die innere Einstellung des Geistes verändern
Was darf man sich von diesem Buch noch versprechen? Vielleicht dass es bei guten Einfällen, wie bei der Autorin auch im Gehirn ihrer Leserinnen und Leser "Plopp" macht, weil die plötzlich wissen, dass sie nicht wissen, was ihnen guttut. Eine Antwort darauf findet sich vielleicht dann, so verstehe ich Urner, wenn wir die schlechten Funktionsweisen unseres Gehirns und das daraus folgende schädliche Verhalten nicht mehr länger belohnen.
Sie erklärt, wie es gehen kann, wenn Sie es wirklich wollen. Denn "die größte Revolution unserer Generation", so zitiert Urner den Begründer der Psychologie William James (1842-1910), "ist die Entdeckung, dass menschliche Wesen die äußeren Aspekte ihres Lebens verändern können, indem sie die inneren Einstellungen ihres Geistes verändern". Sie vermutet, dass diese Revolution auch heute noch nicht die Aufmerksamkeit erhalte, die sie verdiene. Ihr Buch ist ein Beitrag, das zu verändern.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Frühere naheliegende Leseranwalt-Kolumnen:
2009: "Ein Leser und seine Frau wünschen sich gute Nachrichten"
2009: "Die Frage nach den guten und schlechten Nachrichten"
2016: "Eine Zeitung für Menschen, die noch an das Gute glauben"
2016: "Wird der Zustand der Welt zu schlecht eingeschätzt?"
2016: "Gute und schlechte Nachrichten, eine Frage der Perspektive"