
Mit Namen und Bild wird ein Würzburger Stadtrat erstmals in einem Bericht am 12. Mai verdächtigt, Steuervergehen begangen zu haben. Die Redaktion erklärt das mit dem öffentlichem Interesse an der bekannten Persönlichkeit und mit dessen Pachtverhältnissen mit der Stadt. Sie sei damit ihrer grundgesetzlich verbrieften Kritik- und Kontrollpflicht der Medien nachgekommen. Dies stellt die Redaktion am 17. Mai in einer Anmerkung zu Leserbriefen in der Zeitung fest, in denen die namentliche Identifizierung der beschuldigten Person kritisiert wurde.
Ich meine, diese Anmerkung der Redaktion bedarf einer Ergänzung.
Recherche und Berichterstattung sind zulässig
Die Absender der Leserbriefe meinen in der Berichterstattung eine Vorverurteilung zu erkennen. Unterstellt wird auch, dass Recherche-Videos Persönlichkeitsrechte verletzen könnten. Solche Reaktionen aus Lesersicht sind verständlich. Demgegenüber ist aber unumstritten: "Das Presserecht ermöglicht die vorliegende Art und Weise, sowohl von Recherche als auch von Berichterstattung." Es stimmt folglich, was die Redaktion schreibt: Es gibt keine Vorverurteilung. Die vorliegende Verdachtsberichterstattung ist zulässig, selbst wenn man darin oft eine Gratwanderung sehen kann.
Medienethische Betrachtung der Berichterstattung
Was in der rechtfertigenden Erklärung der Redaktion aber fehlt, das soll hier Thema einer Ergänzung sein. Könnte doch sonst der falsche Eindruck hängen bleiben, dass es nur die Möglichkeit gegeben hat, namentlich zu berichten. Aber nicht alles, was das Recht zulässt, wird zur Pflicht, es zu nutzen. Deshalb zeige ich eine medienethische Betrachtung auf. Es gibt nämlich durchaus Gründe, strafrechtlich relevante Vorwürfe erst dann unter Namensnennung zu verbreiten, wenn sie juristisch als erwiesen gelten.
Erfahrung zu Verdachtsberichten ohne Namen
Als mögliche Folge des Verzichts auf Namen ist vorauszuschicken, was Erfahrungen sagen. Nach Berichten über Verdächtigte werden der Redaktion zuweilen unlautere Absichten unterstellt: Sie schütze zu Unrecht den Namen einer Persönlichkeit, hier eines Stadtrates. Man stellt Glaubwürdigkeit in Frage. Das kann im vorliegenden Fall nicht mehr passieren. Dass manche Leser auch ohne Namen meinen, alleine über die Vorwürfe erkennen zu können, um wen es geht, dass sollte ebenfalls berücksichtigt werden. Das ist meist unvermeidlich und wird Misstrauen kaum verhindern.
Ein Medien-Pranger aus Vorwürfen?
Aber bei einer Abwägung der Folgen kann zum vorliegenden Zeitpunkt dennoch einiges für einen Verzicht auf Namen und Bild sprechen. Denn tatsächlich entsteht schon mit der Verbreitung von Vorwürfen ein Medien-Pranger. In Zeitung und Internet, das nichts vergisst, wird der Name einer Person belastet. Und die gilt aktuell unzweifelhaft als unschuldig. Da kann im Internet Belastendes auch noch hängen bleiben, wenn es zu einem Freispruch kommen sollte. Einer Abwägung, ob Angehörige eines Verdächtigen mitleiden sollten, bedarf es auch.
Gelegenheit zur Stellungnahme für den Beschuldigten
Der Deutsche Presserat sagt in seinem Kodex unter Ziffer 13 zur Unschuldsvermutung unter anderem: "Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse." Dem wird die Redaktion im vorliegenden Fall gerecht. Deren Verantwortliche erklären, sich damit auseinandergesetzt zu haben und deshalb nur in sachlicher Berichterstattung den Namen des Beschuldigten genannt zu haben. Dem sei zudem von Anfang an Gelegenheit gegeben gewesen, selbst Stellung zu nehmen. Das hat er am 13. Mai getan und den Vorwürfen widersprochen.
Die Kontrollfunktion der Presse und eine Frage zu ihrer Erfüllung
Sollten die beobachteten Vorgänge - entgegen den berichteten Expertenstimmen - am Ende ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben, gilt es auch Prangerwirkungen wieder journalistisch angemessen zurechtzurücken. Dieser anspruchsvollen Aufgabe käme die Redaktion natürlich so gut es geht nach. Doch schon jetzt stellt sich die spannende Frage: Wäre die Redaktion ihrer Kontrollfunktion auch gerecht geworden, hätte sie Namen und Bild des Beschuldigten zurückgehalten, bis die Angelegenheit auf dem Rechtsweg geklärt ist? Darauf vermag gewiss jede und jeder selbst auch zu antworten.
Dem Wachhund nicht die Zähne ziehen
Es ist jedenfalls eine schwierige und professionelle Entscheidung, die Redaktionen in solchen Fällen treffen müssen und das, noch bevor Gerichte geurteilt haben. Und ich will der Presse als Wachhund in unserem Staatswesen mit meinen Gedanken keineswegs die Zähne ziehen. Menschlich wäre es aber, würden Journalisten von medienethischen Abwägungen, auch von Unsicherheiten oder Zweifeln etwas vermitteln. Ihre angemerkten Rechte, die kann ihnen niemand nehmen.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch: Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

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2015: "Weltweite Vernetzung egalisiert im Internet den Pressekodex"
2016: "War Uli Hoeneß Thema des Tages"
2016: "Auch vor einer Namensnennung gilt: Im Zweifel für den Angeklagten"
2017: "Eine schwierige Abwägung"
2019: "Die Straftat und der Verdacht"
2020: "Wenn das Persönlichkeitsrecht zurückstehen muss"
2021: "Was nach verletztem Infektionsschutz schützt"
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