Sehen Leser journalistische Grundsätze in einem Bericht verletzt, dann schmückt es die Redaktion, wenn sie darauf reagiert. Geht sie dabei einem kritisierten Artikel auf den Grund, ist das wünschenswerte Selbstreflexion. Die fördert Kommunikation und zeigt eine Kritikfähigkeit an, die Vertrauen schafft und Nachrichtenkompetenz unterstützt.
Das möchten Medien-Ombudsleute fördern, folglich auch ich als Leseranwalt. Ein Ergebnis-Bericht über eine Wahl in Thüringen kann exemplarisch dafür stehen, denn er hat begründete Leserkritik hervorgerufen.
Der Verlierer "hat die Bühne bekommen"
Frau R.K. weist darauf hin, dass im Bericht der Main-Post über die Landratswahl in Hildburghausen der Wahlsieger Sven Gregor (Freie Wähler) eingangs nur in drei Sätzen erwähnt wird. Der Verlierer der Wahl habe im Artikel „die Bühne bekommen“, sagt sie.
Alles begann mit der Überschrift: „Neonazi Frenck erzielt mehr als 30 Prozent“. Das stelle den in der Zeitung alleine im Foto gezeigten Kandidaten eines ultrarechten Bündnisses quasi wie einen Gewinner dar, schreibt Frau R.K.. Das hält sie für verfehlt.
Ähnlich der Titel über einem etwas ausführlicheren Online-Text: "In der Nachbarschaft zu Unterfranken: Neonazi Frenck erzielt bei der Landratswahl in Südthüringen über 30 Prozent". Im Gegensatz zur Zeitung gibt es hier auch ein Bild des Siegers.
Leser R.G.: "Wir brauchen uns nicht über das hohe Wahlergebnis wundern"
Nicht nur Frau R.K. übt Kritik: Auch Leserin S.G. und Leser R.G. haben in Leserbriefen (veröffentlicht am 15. Juni in der Zeitung) die Gewichtung im Bericht angesprochen. R.G. erklärt, "wir brauchen uns nicht über das hohe Wahlergebnis wundern, wenn diese Partei (meint hier wohl AfD) in den Medien diesen Stellenwert bekommt".
Und Nutzer K.D. beklagt, dass statt des Wahlsiegers eine Fehlentwicklung mehr Raum und Aufmerksamkeit bekomme. Die Veröffentlichung der Zuschriften war eine Chance für die Redaktion, erklärend zu reagieren. Die hat sie verpasst. Ich halte es für wichtig, als Leseranwalt das Versäumte nachzuholen.
Bisher gepflegte Grundsätze für Wahl-Berichte über den Haufen geworfen
Wieso überhaupt die große Darstellung einer kommunalen Wahl außerhalb Unterfrankens, dem Verbreitungsgebiet dieser Zeitung? Dafür steht auch der Faktor Nähe. Hildburghausen liegt in direkter Nachbarschaft. Zudem wird das hohe 30-Prozent-Ergebnis eines Neonazis zum Kern der Nachricht. Darin kann man auch eine Warnung sehen.
Daraus entstand dann die kritisierte Gewichtung. Die wirft anscheinend bisher gepflegte Grundsätze für Berichte zu Wahlergebnissen über den Haufen. Freilich ist zu berücksichtigen, dass eine Erklärung des Thüringer Kommunalwahlgesetzes im Kontext mit dem Verlierer ins Gewicht fällt.
Gefährliche redaktionelle Abwägung
Eine gefährliche redaktionelle Abwägung bleibt es, die den Aufmerksamkeitsfaktor für das Ergebnis eines Neonazis schon im Titel über den von vielen Lesern gewohnten und erwarteten Umgang mit einem Sieger und einem Verlierer stellt. Das steht der Erkenntnis entgegen, dass antidemokratischen Kräften, zu denen sich der Verlierer zählen lässt, nicht mehr Beachtung geschenkt werden soll, als nachrichtlich notwendig.
Darüber berichten gehört natürlich dazu. Aber es geht um einen demokratisch angemessenen Umgang. Einen Neonazi dabei fast auf dem Wiedergabe-Level eines Siegers zu präsentieren, ist nicht notwendig. Zumal es Landrat Gregor ist, der im Blickpunkt der Nachbarschaft stehen wird.
Leser zeigt bessere Lösung auf
Herr R.G. zeigt in seinem Leserbrief eine bessere Lösung für die Veröffentlichung auf: Nämlich zu analysieren, wie der Freie Wähler Gregor in der Stichwahl auf 69,5 Prozent kommen konnte. Eine solche Einschätzung ist in einem Stimmungsumfeld wie in Thüringen spannend. Dieser Blick auf das Ergebnis hätte dieser Zeitung entsprochen, deren Kommentatoren zurecht nicht müde werden, vor der AfD und den darin vertreten rechtsextremen Personen zu warnen.
Dass es um die Frage geht, wie berichtet wird, hat auch der Würzburger Medienpsychologe Prof. Frank Schwab schon im Februar 2024 in einem Interview erklärt. Dem MDR sagte Gregor nach seinem Wahlsieg in einem Interview, die beste Idee, die er im Wahlkampf gehabt habe, sei gewesen, viele Kilometer durch den Landkreis zu laufen und mit den Menschen zu reden.
Nicht falsch, aber kritikwürdig
Man darf beschriebenen missverständlichen Einzelfall innerhalb einer guten Wahlberichterstattung nicht überbewerten. Aber als Merkpunkt kann man festhalten: Die Nachricht ist zwar nicht falsch gewesen, aber ihre Ausführung kritikwürdig. Einer Kollegin stimme ich danach zu: Sie bezeichnet die Leser-Zuschriften als "reflektiert und klug".
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:
Juli 2020: "Journalisten sollen ihre Arbeit reflektieren"
Sept. 2021: "Wann eine Bewertung von Kandidaten-Aussagen vor der Wahl nötig ist"
Okt. 2021: "Warum Redaktionen so transparent wie möglich arbeiten sollten"
Okt. 2023: "Zum Wählen animiert durch Konfrontationen und andere Meinungen in der Zeitung"
Okt. 2023: "Was Leser angesichts von Wahlergebnissen von Redaktionen verlangen können und was nicht"