Bewertungen sind Teil des Journalismus und derzeit gerade bei Vorstellungen von Kandidatinnen und Kandidaten, die sich um ein Bundestagsmandat bewerben, gefragt. Da bedarf es eben mehr als nur einer puren Verbreitung ihrer Wahlkampf-Aussagen. Zu diesem Hinweis veranlasst mich Leser M.S. mit seiner Kritik an der Darstellung eines Direktkandidaten - online und in einem Lokalteil der Zeitung vom 2. September.
Unter der Überschrift "Für 'dieBasis' in den Bundestag" wurde ein Bewerber vorgestellt, der mit der neuen Partei Corona-Maßnahmen verhindern will und das Virus für nicht übermäßig gefährlich hält. Letzterem wird im Artikel begründet widersprochen.
Anmerkung zum Parteiprogramm
Man liest im Artikel, dass jene Partei, 2020 aus dem Umfeld der Querdenker-Proteste gegründet, gegen Corona-Maßnahmen ist und die "Aufhebung aller auf Zwang beruhenden Maßnahmen" anstrebt. Dadurch würden die Grundrechte unverhältnismäßig eingeschränkt. Dass diese Behauptung von Rechtsexperten mehrfach widerlegt worden ist, hat der Autor angemerkt.
Der Mitbegründer und seine Falschmeldungen
Mitbegründer jener Partei, das steht ebenfalls im Artikel, war Bodo Schiffmann, der durch Falschmeldungen auffiel, die klar benannt werden. Ich wiederhole sie hier aber nicht. Falsches soll nicht vertieft werden. So war bei der Vorstellung jeweils jenen Aussagen des Kandidaten und seiner Partei widersprochen, die nicht aktuell gesicherten Erkenntnissen zu Corona entsprechen.
Die Zweifel des Lesers
Doch Leser M.S. meldet Zweifel an: "Versteht man so ein Machwerk ernsthaft unter einer neutralen Präsentation eines Kandidaten?" Ihm sei aus eigener Erfahrung klar, welche Meinung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Zeitung von Menschen hätten, die andere Ansichten vertreten würden, als sie selbst. Der vorliegende Artikel sei wohl ein klarer Fall für den Deutschen Presserat.
Keine Ansichten, sondern Fakten
Der Presserat, davon gehe ich aus, würde seine Beschwerde wohl zurückweisen, wenn die Kritik auf die Tatsache zielt, dass Aussagen jenes Basis-Kandidaten und seiner Partei im Artikel in Frage gestellt werden. Das ist keine Preisgabe von Neutralität oder der Überparteilichkeit. Begründete Bewertungen sind Aufgabe eines verantwortungsbewussten Journalismus. Und die entspringen nicht anderen redaktionellen Ansichten, sondern sind die Klarstellung nicht korrekter Fakten im Parteiprogramm. Man müsste es kritisieren, würde das unterlassen. Fordert doch der Presserat in Richtlinie 1 des Pressekodex, die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit.
Schon als 1977 eine Regionalzeitung zur Vorstellung zweier Kandidaten geschrieben hatte, dass ihre Chance in den Bundestag gewählt zu werden, gegen Null tendiere, wies der Presserat eine Beschwerde darüber als unbegründet zurück. Eine solche Einschätzung sei zulässig. Nachzulesen unter der Überschrift "Kandidaten-Chancen mit Tendenz gegen Null" (Ziffer 2.3) im Archiv des Presserates.
Noch eine Grundsatzfrage
Man könnte auch noch grundsätzlich fragen, ob eine Kandidatin oder ein Kandidat einer Partei, die durch erkennbare Falschaussagen auffällt, in einem Medium vorgestellt werden sollte. Da antworte ich klar mit einem Ja. Auch er bedarf der Darstellung, aber nur mit einer Bewertung. Selbst wenn dabei falsche Feststellungen erst wiederholt werden müssen, bevor sie klargestellt werden. Entscheidend ist, dass uns Kandidaten und Parteien bei der Abstimmung auf den Wahlscheinen wieder begegnen. Da ist es gut, um Hintergründe zu wissen.
Anton Sahlender, Leseranwalt (siehe Vereinigung der Medien-Ombudsleute)
Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:
2018: "Transparenz für das redaktionelle Konzept"
2020: "Mit Wahl-Prognosen wird nichts suggeriert"
Anton Sahlender, Leseranwalt