Allerheiligen 2020 in Geroldshausen: Auf dem Friedhof werden die Gräber der Verstorbenen gesegnet. Danach geht es auf die andere Straßenseite. Das Kriegerdenkmal steht hier, mitten im beschaulichen Ort. Der Chor singt, Feuerwehrleute sind angetreten, Reservisten salutieren. Der Bürgermeister legt einen Kranz nieder. Dann verneigt er sich vor den gefallenen und vermissten Soldaten der beiden Weltkriege. Er verneigt sich aber auch vor Eduard Wirths, einem der größten Massenmörder der NS-Zeit.
KZ-Arzt Wirths stammt aus einer angesehenen Unternehmerfamilie in Geroldshausen
Gut zweieinhalb Wochen später fragt der Mitteldeutsche Rundfunk bei Bürgermeister Gunther Erhardt wegen eines Interviews an. Es soll um Eduard Wirths und das Kriegerdenkmal gehen. Ende Januar wird in der Sendung "MDR-Zeitreise" schließlich eine Dokumentation über den KZ-Arzt gezeigt, das Denkmal eingeblendet, der Bürgermeister dazu befragt. "Wie aus heiterem Himmel ist die Diskussion darüber dann aufgeploppt", sagt der ehrenamtliche Bürgermeister der 1340-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Würzburg. Dass der Name Wirths unter den 25 Gefallenen des Zweiten Krieges dort aufgeführt ist, habe er nie bemerkt.
Seitdem schämt sich Ehrhard. "Ich bin heute noch erschüttert." Weil das Interesse am Volkstrauertag im Ort nachließ, hatte er das Gedenken am Kriegerdenkmal kurz nach seinem Amtsantritt 2019 auf Allerheiligen gelegt. Schon oft stand er vor dem heimischen Stein aus Muschelkalk, doch der Name von Eduard Wirths ist ihm nie aufgefallen.
Wirths, Sprössling einer bekannten Unternehmerfamilie in Geroldshausen, war leitender Standortarzt im Konzentrationslager Auschwitz, hauptverantwortlich für die Todesmaschinerie der Nazis. Er nahm Selektionen an der Rampe vor, schickte Tausende in die Gaskammern, dafür beschaffte er das Giftgas Zyklon B, führte Versuche zur Früherkennung von Gebärmutterkrebs durch, erprobte neue Impfstoffe und Medikamente an Häftlingen und genehmigte die Experimente seiner Kollegen. Darunter auch Josef Mengele, berüchtigt durch seine Zwillings-Versuche.
"Wirths gehörte zu den zentralen Figuren in Auschwitz", sagt der Göttinger Historiker Stefan Hördler, der sich intensiv mit der Biographie des Lagerarztes auseinandergesetzt hat. In einem britischen Internierungslager hat Wirths am 19. September 1945 einen Selbstmordversuch unternommen. Drei Tage später starb er an den Folgen.
"Der Name Wirths hat auf dem Kriegerdenkmal nichts zu suchen", ist der Bürgermeister heute überzeugt. Aber wie kam der Name dorthin? In den Protokollbüchern des Gemeinderats findet sich nur ein kurzer Eintrag am 1. Dezember 1951. Daraus geht hervor, dass im August 1951 beschlossen wurde, das Denkmal um die Namen der Gefallenen und Vermissten des Zweiten Krieges zu erweitern. Der Auftrag wird an die A. Wirths K. G. in Geroldshausen vergeben. Das A. im Firmenname steht für Albert.
Hat Albert Wirths den Namen seines Sohnes selbst in den Stein gehauen? Oder jemanden damit beauftragt? Belege finden sich keine. Die Vermutung aber, dass Albert Wirths seinem Sohn posthum diese Ehre zuteil werden ließ, scheint nicht ganz abwegig. "Zeitlebens habe er danach gestrebt, entlastende Aussagen über seinen Sohn zusammen zu tragen", schreibt die Berliner Soziologin Helgard Kramer über den Vater in ihrer Rezension des Romans "Der Märchenprinz - Eduard Wirths: vom Mitläufer zum Widerstand" von Ulrich Völklein.
Im Dokumentarfilm "Standortarzt Dr. Eduard Wirths", produziert in den Niederlanden 1975, übernimmt Albert Wirths sogar die Verantwortung dafür, dass sein Sohn den Posten des Standortarztes in Ausschwitz annahm: "Ich sagte zu ihm: Es gibt auf der ganzen Welt keinen Platz, wo du soviel Gutes wirken kannst, wie in Auschwitz." Im gleichen Film kommt auch einer der drei Söhne von Eduard Wirths zu Wort. Auf die Frage, ob sein Vater ein Verbrecher war, antwortet Rainer Wirths mit einem deutlichen "Nein".
Die älteren Geroldshäuser wollen nicht darüber reden
Drei Jahre war Eduard Wirths in Auschwitz geblieben, so lange hatte es dort vor ihm kein KZ-Arzt ausgehalten. Wissen dies die Geroldshäuser, wenn sie am Kriegerdenkmal ihrer gefallenen und vermissten Mitbürger gedenken? "Die Namen, die hier stehen, sind uns Älteren noch sehr gegenwärtig. Es sind unsere Brüder, unsere Schul- und Spielkameraden der Jugendzeit", ist in einer Rede von Hanskarl Mühlhäuser, dem Vorsitzenden der Soldatenkameradschaft zu lesen, die er am 15. März 1998 vor dem Mahnmal hielt. Der Anlass: Mitglieder des Vereins, ehemalige Kriegsteilnehmer und jüngere Soldaten hatten das Denkmal und die Inschriften restauriert. Der Volkstrauertag in Geroldshausen sollte wiederbelebt werden.
Hätte nicht spätestens da auffallen müssen, dass der Name Eduard Wirths nicht auf das Denkmal gehört? Damals war Rainer Künzig Bürgermeister. Oft sei er davorgestanden, aber nie sei ihm der Name aufgefallen, sagt der 62-Jährige. Die Geschichte des KZ-Arztes sei ihm aber schon bekannt gewesen. Und auch, dass die Familie darauf eine andere Sichtweise hat. Dass im Dorf gerade die Älteren nicht gerne darüber reden, habe er bemerkt. "Es soll Ruhe sein mit dem alten Käs", höre er sie noch heute sagen.
Wurde in Geroldshausen also bewusst der Mantel des Schweigens über die unschöne Vergangenheit ausgebreitet? Vielleicht auch, weil es sich bei den Wirths um eine angesehene Familie handelt und das Steinwerk zeitweise der größte Arbeitgeber im Ort war? "Über meine Generation kann ich das nicht sagen", sagt Künzig.
Was geschieht jetzt mit der Inschrift im Stein?
Der 83-jährige Peter Wirths, ein Sohn Eduard Wirths, lebt in Geroldshausen und atmet am Telefon tief durch: "Es ist alles gesagt", wiederholt er mehrmals. "Die Sache ist für mich erledigt." Nach dem Kriegerdenkmal gefragt, antwortet er: "Das ist auch nicht neu." Und über seinen Vater wisse er nur aus Erzählungen. Den Betrieb leitet heute sein Sohn, er heißt auch Eduard. Beide gehörten lange dem Gemeinderat an. "Ich bin etliches jünger als der Vorfall alt ist. Für mich ist das Thema nicht diskutabel", sagt Peter Wirths, kurz angebunden.
Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, passt das ins Bild. "Die Witwe hat sich mit aller Kraft über Jahrzehnte dafür eingesetzt, dass der Name ihres Mannes in Ehren gehalten wird." Im Dokumentar-Film über ihren Mann sagt sie: "Ich habe ihm immer nur erklärt, dass er nichts Unrechtes getan hat, dass er viel Gutes getan hat."
Die Diskussion über das Kriegerdenkmal sei nicht neu, sagt Schuster. Doch wie sollen die Geroldshäuser jetzt damit umgehen? "Ich bin definitiv dafür, dass im Ort aufgeklärt wird", sagt er. Die Situation sei heute anders, als noch vor 20 Jahren. Und die Chancen damit objektiv umzugehen, seien größer.
Und die Inschrift auf dem Denkmal? Bürgermeister Ehrhardt möchte sie nicht "rausmeißeln" lassen. Sein Vorschlag: eine Hinweistafel, die erklärt. Und ein Gedenkstein im Ort, der an die Menschen aus Geroldshausen erinnert, die in den Konzentrationslagern gewaltsam ums Leben kamen.
Gemeinderat berät am Dienstag
"Der Name Wirths hat auf dem Kriegerdenkmal nichts zu suchen", ist Josef Schuster überzeugt. "Erst recht, wenn man noch seine Tätigkeit in Auschwitz dazu nimmt." Es sei ja auch historisch falsch, weil Wirths nicht im Krieg gefallen sei. Ein Hinweisschild sei der falsche Weg. "Das wäre dann eine Tafel, die mit dem Zeigefinger direkt auf die Familie zeigt - und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Text dann so eindeutig ist, wie er sein müsste."
Am Dienstag wollen die Geroldshäuser Gemeinderäte darüber sprechen, wie es jetzt weiter gehen soll. Bürgermeister Ehrhardt will alles "umfassend und mit einfachen Worten darstellen". Wie auch immer - einfach wird es nicht.
Aber in diesem Fall ist die Lage klar. Er ist nicht im oder an Kriegsfolgen gestorben und somit hat der Name auf einem Kriegerdenkmal nichts verloren.
Fehler sind dazu da, korrigiert zu werden.
Keiner kann mehr sagen: das hab ich nicht gewusst.
Wer sich nur eine Spur "mit dem alten Mist" beschäftigt hat und aus der Gegend ist bzw. war, kennt Wirth's! Da könnten wir ja generell im Schulunterricht das Fach Geschichte tilgen.
Die Schande des ‚Wer zahlt, schafft an’.
Die Schande des Wegsehens und Nicht-Wahrhaben-Wollens .
Die Schande des Selbstbetrugs und der Lüge .
Die Schande der Feigheit.
Ein Denkmal wie eine offene Wunde. Und jede Niedertracht und Feigheit der Gegenwart hält sie (ewig?) offen.
Alleine, dass die Gemeinde auch heute noch überlegt, den Namen stehen zu lassen, ist sehr Bedenklich!