Heute gibt es Schwarzwälderkirschschnitten und Biskuitrolle. Im Garten-Café der Main-Bäckerei ist richtig viel los. Die beiden älteren Damen, die extra aus Theilheim (Lkr. Schweinfurt) zum Kaffeeschwätzchen nach Wipfeld (Lkr. Schweinfurt) gefahren sind, finden gerade noch einen freien Tisch. "Hier ist es einfach schön", sagen sie. Ein Satz, den man immer wieder hört, wenn man an Wipfelds grünem Band, der Mainlände, entlang spaziert.
Die "enorme Aufenthaltsqualität" am Mainstrand hatte auch die Jury beim Bezirksentscheid des Bundeswettbewerbs "Unser Dorf hat Zukunft" begeistert. Von der Schiffsanlegestelle bis zum Wohnmobilstellplatz erstreckt sich die grüne Achse mit Ruhebänken, Kinderspielplatz und Generationenplatz. Ein Wipfeld für Jung bis Alt. Doch hat das Winzerdorf tatsächlich Zukunft?
Andere Landkreisen haben sogar überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum
Nach Berechnungen des Landesamtes für Statistik wird die Bevölkerung in Wipfeld schrumpfen. Bis 2033, so die Prognose, soll die Einwohnerzahl um 4,6 Prozent sinken, von 1030 auf nur noch 990. Während in einigen Städten und insbesondere in angrenzenden Landkreisen vor allem durch Zuwanderung ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum und eine vergleichsweise junge Bevölkerung zu verzeichnen sein wird, werden in anderen die Wanderungsgewinne und gestiegenen Geburtenzahlen nicht ausreichen, um die Sterbefälle auszugleichen. Diese Städte und Landkreise werden in ihrer Bevölkerungszahl zurückgehen und der schon heute höhere Anteil älterer Menschen wird weiter zunehmen. Für Unterfranken prognostizieren die Statistiker in 47 von 308 Gemeinden ein Bevölkerungsplus, für 129 Gemeinden erwarten sie einen Bevölkerungsrückgang. Zu letzteren gehört auch Wipfeld.
Aber warum wollen immer weniger Menschen im schönsten Dorf im Landkreis Schweinfurt leben?
Oma Maria: "Wer aufm Land groß wird, der geht nicht in die Stadt"
"Ich will nicht weg", sagt Simon Weidinger. Der 20-Jährige hat hier seine Freunde, seinen Arbeitsplatz bei ZF in Schweinfurt. Er lebt in einem Drei-Generationen-Haus: Großeltern, Eltern und die Jugend. Alle sind im Ort geblieben. Denn hier gibt es sie noch, die Gemeinschaft, die Nachbarschaft, das Gefühl, dazu zu gehören. "Wer aufm Land groß wird, der geht nicht in die Stadt", stellt Oma Maria klar.
Warum ist die Bevölkerungsprognose für Wipfeld dann so schlecht? Bürgermeister Tobias Blesch kommt aus dem Rathaus. Acht Jahre ist er mittlerweile im Amt, besser gesagt im Ehrenamt. In Gemeinden unter 5000 Einwohnern ist der Rathauschef in der Regel nicht hauptamtlich, so regelt es das Gesetz. Tobias Blesch ist trotzdem nahezu täglich im Rathaus am schönen historischen Marktplatz. Seine Stunden im Hauptberuf am Landratsamt Schweinfurt hat er inzwischen reduziert.
Bürgermeister: "Es gibt wenig Bauplätze, vor allem wenige, die der Gemeinde gehören"
Der Bürgermeister nimmt sich Zeit für einen Rundgang durch sein schönes Dorf, das immer weiter schrumpft. "Es gibt wenig Bauplätze, vor allem wenige, die der Gemeinde gehören", sagt er. Wie viele andere Orte auch hat Wipfeld es in früheren Jahren versäumt, sich bei der Bauland-Erschließung Flächen zu sichern. Vorhandenes Bauland ist in Privatbesitz, wird als Kapitalanlage gehalten oder für Nachkommen aufbewahrt. Ein kleines Baugebiet mit sieben, acht Plätzen soll jetzt entstehen. Die Bewerberliste ist schon voll.
Bauplätze sind das eine, Leerstand im Altort das andere. Nicht nur Wohnhäuser stehen leer. Der Lebensmittelladen ist zu, die Metzgerei seit fünf Jahren geschlossen, der Zehntgraf, das ortsbildprägende Gasthaus, seit zehn Jahren verlassen. Trotz aller Bemühungen hat sich kein Käufer oder Pächter gefunden. Deshalb lässt die Gemeinde eine Machbarkeitsstudie erstellen, den Gasthof zu einem Mehrgenerationenhaus zu machen. Wipfeld muss sich nicht nur um Zuwachs kümmern, wichtig sei auch, dass die Älteren und Alten hier weiter leben können, sagt der Bürgermeister.
Auf dem "Bänkle in der Kömmi" treffen sich die Rentner zum Dorfgespräch
Menschen wie Justin Schneider. Der 84-Jährige sitzt auf der Bank vor seinem Haus. An der Lehne hat er ein Schildchen mit der Aufschrift "Privatier" angebracht. Justin Schneider war Landwirt und Weinbauer, lebt jetzt von der Pacht und allein in seinem großen denkmalgeschützten Haus. Ein Auto hat er nicht, was er erledigen muss, macht er mit seinem 46 PS starken Schlepper. Lebensmittel bringt ihm die Nachbarin mit.
Die Bank vor dem Haus mit den blühenden Geranien an den Fenstern und dem plätschernden Brunnen davor ist das "Bänkle in der Kömmi", eine Wipfelder Institution. Hier treffen sich nachmittags Rentner und "machen das Dorfgeschehen durch". Auch Altbürgermeister Peter Zeißner ist manchmal dabei. "Hier ist es schön", sagt Justin Schneider.
Wohnmobilisten aus ganz Deutschland kommen nach Wipfeld
Das wissen auch Fremde. Der Wohnmobilstellplatz ist proppenvoll. Früher war hier der Festplatz. Jetzt kommen Touristen aus ganz Deutschland hierher, schätzen den schönen Blick auf den Main und die Weinberge, die Ruhe und Idylle. Eine Kanufahrerin paddelt vorbei. Auf dem Spielplatz tollen Kinder herum. Am Generationenplatz hat es sich eine Familie bequem gemacht. "Den haben wir in Eigenregie gebaut, ganz ohne Fördergelder", sagt Bürgermeister Tobias Blesch stolz und zeigt auf die Sitzgruppe mit zwei Doppelliegen, zwei Outdoor-Fitnessgeräten und einer Hängematte.
Ein Stück weiter zieht ein Angler einen Aal aus dem Wasser. "Ein guter Platz hier", sagt André Collier. Der Schweinfurter hat von Arbeitskollegen diesen "Geheimtipp" bekommen.
Wipfeld ist reich an Geschichte, an wunderschönen, liebevoll restaurierten Baudenkmälern. Auf das Literaturhaus ist der Bürgermeister besonders stolz. Es ist einmalig in der gesamten Region. Das barocke Fachwerkgebäude am Bachufer im alten Ortskern stammt aus der Zeit um 1700. Die Gemeinde hat es gekauft und aufwendig saniert. Heute werden hier Autorenlesungen, Ausstellungen, Museumsführungen und Schreib-Seminare veranstaltet.
Die "großen Söhne" des Ortes sind weitbekannt: der Humanist Conrad Celtis, der Aufklärer Eulogius Schneider, der Theologe Engelbert Klüpfel, der rührige Wipfelder Schulheiß Nikolaus Müller. Wipfeld will aber weit mehr sein als ein Dorf mit 1100-jähriger Geschichte, es will Tradition mit der Moderne verbinden. Bürgermeister Blesch führt zu dem schicken, bunten Kindergartenanbau, 2014 hochwassersicher auf Stelzen gebaut. "Das war meine erste Baustelle", sagt er. Inzwischen reicht der Platz schon nicht mehr aus. 45 Kinder sind für die Kita angemeldet. Im Schwesternhaus hinter dem Rathaus wird nun ein weiterer Gruppenraum eingerichtet.
Den Menschen, die hier leben wollen, wird es mitunter schwer gemacht
Es mangelt also nicht an Nachwuchs in Wipfeld und nicht an Menschen, die hier gerne leben wollen, denen es mitunter aber schwer gemacht wird. So wie Andrea Heßler, der jungen Oma, die gerade ihren vierjährigen Enkel vom Hort abholt. Gemeinsam mit der Tochter würde sie gerne ein Mehrgenerationenhaus bauen. Doch der Bebauungsplan lässt die Bauweise nicht zu. Jetzt baut jeder für sich allein. "Schade", sagt sie.
Wipfeld verlassen, wäre keine Option gewesen. "Wir sind hier verwurzelt." Hier kennt jeder jeden. Und hier wird noch gegrüßt. "Darauf lege ich Wert", sagt Andrea Heßler. Auch der kleine Josef macht das. "Hallo Hildegard", ruft er der alten Dame zu, die auf einem Gartenstuhl vor ihrem Haus sitzt. Es wird ein Schwätzchen gehalten, dann geht's weiter.
Die ehrenamtliche Gruppe "Grüner Daumen" hat den Altort zum Blühen gebracht. Das bunte Band zieht sich von der Mainlände den Kirchberg hinauf bis zum Gemeindewengert, wo heuer die erste Ernte eingefahren wird. Man muss weit laufen, bis man sieht, dass Wipfeld ein Winzerdorf ist. Doch der schöne Ausblick belohnt einen. Links das Kloster St. Ludwig, dann die Weinberge, die Dachlandschaft von Wipfeld mit dem herauslugenden historischen Rathaus und vorne die Mainfähre.
"Ich bin überzeugt, dass niemand fortziehen will", sagt der Bürgermeister. Wipfeld sei ein attraktiver Wohnort, allein schon wegen der Landschaft. Aber auch wegen der guten Lage: Mit dem Auto ist man in einer Viertelstunde in Schweinfurt, in einer halben Stunde in Würzburg. Auch Busse fahren dorthin. Für seine gut 1000 Einwohner bietet Wipfeld zudem ein solides Handwerk und sogar Ausbildungsplätze. Es gibt Gewerbe und Gastronomie und ein aktives Vereinsleben.
Der Bürgermeister zählt gelungene Umnutzungsbeispiele auf: die ehemalige Schule zum Dorfgemeinschaftshaus, ein Wohnhaus zum Sportfischerheim, ein altes Gasthaus zur Gastwirtschaft Ankerstube und die Erweiterung der Raiffeisenlagerhalle als Bäckerei. Als nächstes Projekt steht der Umbau der bisherigen Kelterstation zum Gemeindebauhof an. "Die Identifikation mit Wipfeld ist hoch", sagt der Bürgermeister.
Das fränkische Kopfsteinpflaster ist nicht gut für Menschen mit Rollator oder Rollstuhl
Der Weg nach unten führt wieder zum schönen Marktplatz. Der Bürgermeister hat Amtsgeschäfte zu erledigen. "Es gibt viel zu tun", sagt Tobias Blesch. Barrierefreiheit im Altort ist ein großes Thema. Der Marktplatz und die angrenzenden Bereiche wurden Anfang der 1990er-Jahre im Zuge der Dorferneuerung mit historisch fränkischem Kopfsteinpflaster gestaltet. Das sieht schön aus, ist aber nicht praktisch für Menschen mit Rollator oder Rollstuhl. Ein Teil des Pflasters soll nun besser begehbar gemacht werden.
Zurück an der Mainlände. An der Fähranlegestelle herrscht reger Betrieb. Die schwimmende Brücke über den Main ist eine Attraktion, die Touristen wie Einheimische zu Fuß, mit dem Rad, dem Auto oder dem landwirtschaftlichen Gefährt nutzen und genießen. Sie wurde vor kurzem zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe erklärt. Eine Zeit lang suchte Wipfeld nach Verstärkung für die Fährmannschaft. Momentan ist man gut aufgestellt. Sogar der Bürgermeister gehört zum Team. Er hat sein Fährpatent aber noch nicht in der Tasche, es fehlen noch einige Fahrstunden. Es fehlt halt die Zeit. Aber Blesch sagt: "Ich hab' den festen Willen, das zu schaffen."
Die Fähre bringt gerade Fahrradtouristen vom Ortsteil St. Ludwig herüber. Die älteren Herrschaften mit den E-Bikes steuern gleich den Zehntgraf-Biergarten an. Heute sind Bratwürste und Flammkuchen angeschrieben. Wer eher Hunger auf Literatur hat, bedient sich im offenen Bücherschrank am Mainufer, zu dem das ausrangierte knallgebe Fährsteuerhaus umfunktioniert worden ist. Die Auswahl ist vielfältig, vom Liebesroman bis zum Thriller, von Konsalik bis Ludwig Ganghofer. Der bayerische Volksschriftsteller soll ja einmal über seine Heimat gesagt haben: "Wen Gott liebt, den lässt er fallen in dieses Land." Vielleicht auch ins Wipfelder Weinland.