Er kennt den Atlantik, den Pazifik, die Karibik, aber jetzt ist der Flusskilometer 317,2 bis 317,4 auf dem Main die Heimat von Seemann Ingo Tiemann. Denn genau in diesem 200 Meter breiten Wasserstreifen setzt die Wipfelder Fähre von einem Ufer ans andere über, und bald darf der 44-Jährige die Fähre steuern. "Ich kann es kaum erwarten, dass ich das Patent habe." 60 Fahrtage muss er dafür noch absolvieren.
Ingo Tiemann ist einer von drei Fährjungen – so der Fachjargon für Anwärter auf einen Fährführerschein – auf der Wipfelder Fähre. Mit ihm in der Ausbildung sind seit Mitte vergangenen Jahres der 30-jährige Zerspanungsmechaniker Patrick Körpert und der 62-jährige Kontrabassist Bruno Waldherr.
Und es gibt sogar noch einen vierten Anwärter: Auch Wipfelds Bürgermeister Tobias Blesch will Fährmann werden. Stolz zeigt der Gemeindechef sein Schifferdienstbuch. 30 Fahrtage sind schon eingetragen. 180 sind Voraussetzung, um zur Prüfung zugelassen zu werden. "Mal gucken, ob ich das schaffe", meint Blesch schmunzelnd. Den festen Willen hat er. Er wäre dann wohl der einzige Bürgermeister im weiten Umkreis mit einem Fährführerpatent.
Dass Wipfeld so viele Anwärter hat, ist außergewöhnlich. Jahrelang hat man nämlich vergeblich nach Fährführern gesucht. Im Frühjahr vergangenen Jahres versuchte es die Gemeinde deshalb über eine Announce, und prompt meldeten sich gleich drei Interessenten. Ingo Tiemann, der Seemann, möchte hauptamtlich als vierter Fährführer einsteigen. Die beiden anderen sollen als Aushilfen die Fährmannschaft unterstützen, die 365 Tage im Jahr im Dienst ist. Denn die Wipfelder Fähre fährt sommers wie winters, jeden Wochentag, jeden Sonntag und jeden Feiertag. Sie ist die einzige direkte Verbindung von Wipfeld in den Ortsteil St. Ludwig auf der anderen Mainseite. "Das ist sozusagen unsere Gemeindeverbindungsstraße", unterstreicht Bürgermeister Blesch die Bedeutung der Fährverbindung.
Man muss immer vorausschauend fahren
Die Fahrt dauert nur ein paar Minuten. Der Main ist an dieser Stelle gerade mal 70 Meter breit. Die Fähre steuert das andere Ufer aber nicht auf direktem Weg an, sondern in einem leichten Bogen, um sich mit der Strömung in die Anlegestelle driften zu lassen. Sieht einfach aus, ist es aber nicht. "Nicht zu weit unten in die Bucht fahren", warnt Ausbilder Bernhard Niedermeyer vor den hervorstehenden Ufersteinen. Die beiden Ruderpropeller, die sogenannten Schottel, die die Fähre antreiben, ragen nämlich einen guten halben Meter neben dem Fährkörper ins Wasser. Bleibt man damit an den Steinen hängen, "wird's teuer". Patrick Körpert korrigiert sofort den Kurs. Früher hätte er dafür ein paar Mal kurbeln müssen. Jetzt, mit der neuen elektronischen Steuerung, die vor Weihnachten eingebaut wurde, dreht er nur links und rechts am Knöpfchen, und schon sind die beiden Propeller neu ausgerichtet. Der Nachteil: Die elektronische Steuerung ist träger, reagiert erst mit Verzögerung auf den Kurswechsel. "Man muss immer vorausschauend fahren", schärft Niedermeyer deshalb seinem Fährjungen ein.
Vollbremsung auf dem Fluss wird in der Prüfung verlangt
Bürgermeister Blesch hat sich bislang noch nicht an die neue Steuerung herangetraut. "Die vielen Knöpfchen sind mir nicht ganz geheuer." Dann nimmt er aber doch auf dem Chefsessel Platz, lässt sich die roten, grünen, schwarzen Knöpfe erklären und manövriert die Fähre unter der strengen Aufsicht des Ausbilders sicher ans andere Ufer. Zu den wichtigsten Knöpfen auf dem Schaltpult gehört die Hupe. "Damit werden Manöver angezeigt", erklärt Niedermeyer. Ein langer Hupton heißt "Achtung". Einmal lang und einmal kurz bedeutet, dass die Fähre ihren Kurs nach Steuerbord ändert. Sportbootführer kennen diese Signale und müssen dann warten. Vorrang hat die Fähre aber nur vor der Freizeitschifffahrt. Kommt ein Frachter an, muss auch sie am Ufer stehen bleiben. So wie jetzt, als ein 187 Meter langer Schubverband an Wipfeld vorbeizieht.
In der Prüfung wird eine Vollbremsung auf dem Fluss verlangt
Ingo Tiemann hat von den drei Fährjungen die meisten Fahrtage. Er darf schon allein im Fährhaus sitzen, Ausbilder Bernhard Niedermeyer ist aber immer in Reichweite. Mit ihm hat er schon die Vollbremsung geübt. Das wird in der Prüfung verlangt, denn auch auf dem Wasser können Gefahren lauern. Beispielsweise wenn plötzlich ein Baumstamm vor der Fähre treibt. Und wie macht man eine Vollbremsung ohne Bremspedal? Bernhard Niedermeyer führt es in der Flussmitte vor: Ruder um 360 Grad drehen, Vollgas geben und dann das Gas je nach Stärke der Strömung wieder wegnehmen. Die Fähre bleibt auf der Stelle stehen. Niedermeyer hat noch mehr Manöver auf Lager, fährt Kurven und lässt die Fähre im Kreis drehen. Der gelernte Maler ist ein geübter Fährmann.
Aber nicht nur fahrerisches Können wird von einem Fährführer verlangt. Er muss auch wissen, wie die Fähre richtig beladen wird. Die acht zulässigen Fahrzeuge müssen von vorne nach hinten konisch aufgereiht werden, damit die Fähre nicht kopflastig wird und bei der Vorausfahrt eintaucht. Und wie viele Personen dürfen an Bord? "Maximal 50", antwortet Partrick Körpert korrekt. So viele Rettungswesten sind nämlich vorhanden. Der 30-Jährige nimmt die Ausbildung sehr ernst, weiß um das Verantwortungsbewusstsein, das ein Fährmann hat. Als Motorbootfahrer kennt er sich zwar auf dem Wasser aus, aber "Fähre fahren, ist schon etwas anderes". Das bestätigt auch Bruno Waldherr, der ebenfalls Wassersportler ist und sogar einen Segelschein fürs Meer besitzt.
Die meisten "Seefahrerkenntnisse" aber bringt Ingo Tiemann mit, der 30 Jahre in Venezuela gelebt hat und viele Jahre zur See gefahren ist. Er war Matrose auf Öltankern und Frachtschiffen und auf allen Weltmeeren unterwegs. Auch auf Touristenschiffen hatte er angeheuert. Aus familiären Gründen zog es den gebürtigen Hamburger dann zurück nach Deutschland. Im Wipfelder Nachbarort Schwanfeld hat er seit drei Jahren eine neue Heimat gefunden. Die Sehnsucht nach dem Meer aber ist geblieben. Deshalb fiebert er seinem Fährmannpatent entgegen. Der Main ist zwar nicht das Meer, "aber es reicht ja schon, auf einem Schiff zu sein".