Schrilles Hupen hallt über die Baustelle. Dann ist es still. Der Verkehr auf der A3 steht. Die Gespräche der Anwohner verstummen. Alle Augen, Kameras und Handylinsen richten sich nach Osten. Das rot-weiße Absperrband zittert im Wind. "Zehn. Neun. Acht." Sprengmeister Eduard Reisch zählt den Countdown selbst. "Drei. Zwo. Eins. Null. Sprengung!" Sekunden später knallt es. Schmutz schießt nach oben. Wie Zollstöcke falten sich die bis zu 65 Meter hohen Pfeiler der alten Talbrücke Heidingsfeld bei Würzburg zusammen, stürzen donnernd zu Boden. Die Erde bebt, eine Staubwolke wälzt sich durch den Reichenberger Grund. Zurück bleibt nichts als Schutt. Applaus erklingt.
Es war der letzte große Akt. Quasi das Finale des Brückenrückbaus. Nur: Wie kann eine Autobahnbrücke, ein so stabiles Bauwerk, völlig verschwinden?
Rückblick. März 2018. Der Anfang vom Ende. Die alte A3-Talbrücke hat ausgedient. Verwaist liegen die Fahrspuren in der Sonne. Ein surrealer Anblick einer der meist befahrenen Autobahnen Deutschlands. Seit mehr als einem halben Jahrhundert spannt sich das Bauwerk über das Tal. 630 Meter lang. Auf bis zu 65 Meter hohen Pfeilern. Tausende Tonnen Stahlbeton. Jetzt soll der Koloss abgerissen werden.
Grund ist der sechsstreifige Ausbau der A3 bei Würzburg."Etwas in der Größenordnung hat man wohl nur einmal im Leben", sagt Wolfgang Thaler. Der Losbauführer von der Autobahndirektion Nordbayern steht Tag für Tag auf der größten Brückenbaustelle Unterfrankens, in neonorangener Warnweste und mit Schutzhelm. Er war da, als die Pfeiler der bereits fertigen Brückenseite aus dem Boden wuchsen. Als die Fahrbahn "drüber geschoben wurde". Als der Verkehr endlich auf den neuen Spuren rollen durfte. Und er begleitet den Rückbau der alten Talbrücke, "Schritt für Schritt".
Im ersten dieser Schritte verschwinden weite Teile der Fahrbahn. Dazu wird zunächst der Asphalt abgefräst und entsorgt. Wie Kuchenstücke aus einer Kastenform trennen dann schwere Geräte einzelne Felder aus der einstigen Autobahn und lassen sie ab. Einige bis auf den Boden, andere werden zunächst auf Hilfspfeilern abgelegt. Je nachdem, wie es die topografischen Verhältnisse ermöglichen, sagt Thaler. Bagger rollen an, fressen sich mit riesigen Schaufeln und Meißeln in Beton und Stahl. Es hämmert, knirscht, dröhnt und scheppert. Die Luft schmeckt staubig. Schuttberge türmen sich auf. Was passiert damit?
Das meiste wird recycelt, sagt Thaler. Die Träger zwischen den Pfeilern, auf denen die Fahrbahndecke auflag, sind zum Beispiel "aus hochwertigem Stahl, der in einer Stahlhütte eingeschmolzen und zu 100 Prozent wiederverwertet wird". Der Beton darüber wird zerbröselt und "geht in die Bauschuttaufbereitung", gleiches gilt für den Stahlbeton der Pfeiler.
Ohne abdeckende Fahrbahn ragen diese wie bizarre Gerippe in den Himmel. Relikte statt tragende Säulen. Noch. Insgesamt sieben Pfeilerpaare stützten die Talbrücke Heidingsfeld. Sie werden mit verschiedenen Techniken abgebaut – einige abgeschnitten und herausgehoben, andere gestürzt. Oder sogar gesprengt.
Anfang Februar 2019. Zwei Bagger zupfen an den Stahlseilen, die oben an dem Pfeilerpaar fixiert sind. Es grollt und knirscht. Langsam neigen sich die 40 Meter hohen Betonriesen nach Osten, wanken und stürzen krachend zu Boden. Aufgefangen von einem Fallbett aus Erde. Trotzdem ist die Erschütterung spürbar. Wie Biber hatten Bauarbeiter vorher am Fuß des Pfeilers Teile herausgebrochen und provisorisch ersetzt. Um den Pfeiler zu "fällen", wurden die Stützen herausgezogen, die Stabilität geschwächt, und somit das Umziehen nur an dünnen Seilen möglich.
Eine Woche später wiederholt sich das Ganze. Dieses Mal fällt das noch größere Pfeilerpaar direkt neben der Stuttgarter Straße. 45 Meter hoch, 1200 Tonnen schwer. Auch dieser Riese kippt wie geplant, schlägt mit Wucht auf, verfolgt von einer ganzen Reihe Schaulustiger.
"Das war schon spektakulär", sagt Peter Wolz. Beim Aufprall habe die Erde gebebt, kleinere Brocken seien sogar bis auf sein Grundstück geflogen. Der 53-Jährige lebt mit seiner Frau direkt neben der Baustelle, im ehemaligen Bahnwärterhäuschen an der Strecke Würzburg-Reichenberg. Der Lärm, der Schmutz, die Mega-Baustelle das sei eigentlich gar nicht so schlimm, sagt Wolz. "Wann sieht man sowas schon direkt vor der Haustüre?" Nicht jeder stand und steht dem Millionenprojekt A3-Ausbau so gelassen gegenüber.
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Die Bürgerinitiative Umwelt- und Gesundheitsinitiative Würzburg-Tunnel (BI) etwa wehrte sich von Beginn an gegen die Trassenführung, plädierte für einen echten Tunnel durch den Heuchelhofberg. Aus ihrer Sicht wäre damit die Belastung für Umwelt und Anwohner deutlich geringer. Ärger gab es auch um die Abbruchplanung: Die BI wie die Stadt Würzburg fühlten sich von der Autobahndirektion nicht ausreichend über die Pläne zur Pfeilersprengung informiert. Ein Stadtrat drohte mit einer Klage, es wurde erhitzt debattiert. Am Ende ging der Rückbau weiter.
Kurz vor Ostern. Die Straße zum Stadtteil Heuchelhof ist gesperrt. Ein Großkran ragt über das Tal. 750 Tonnen kann er heben, das sind 136 durchschnittlich schwere Elefanten. Innerhalb von gut zwei Wochen soll er das letzte Reststück der einstigen Brückenfahrbahn abtragen. Mit einer Säge werden dafür vier Meter breite Streifen herausgeschnitten. Einzeln schweben sie am Kran über die Straße. Bauarbeiter sichern den Weg, führen die Teile mit dicken Seilen bis zu den vorbereiteten Erdbetten auf dem Katzenberg. Dort warten die Bagger. Das Dröhnen und hämmernde Tack-Tack-Tack der Meißel setzt ein, Beton zerbröckelt, Stahl wird sichtbar. "Das geht jetzt die gesamte Nacht so weiter", sagt Losbauführer Wolfgang Thaler. Rund um die Uhr läuft der Rückbau, im Dunkeln mit Flutlicht.
"Nachts ist es sogar angenehmer, weil es ruhiger ist", sagt einer der Abbrucharbeiter. Er kommt aus dem Kreis Memmingen, arbeitet seit 35 Jahren auf dem Bau. In Würzburg ist er mittlerweile gut ein Jahr im Einsatz. Unter der Woche schläft er im Hotel, am Wochenende geht es heim zur Familie. "Du musst halt dort hin, wo die Brücke ist." Das ist Alltag. Die Talbrücke Heidingsfeld ist es nicht. "Die Länge, die Größe und die Höhe, das ist schon besonders." Respekt vor diesen Dimensionen habe er, Furcht nicht. "Wenn man Angst hat, sollte man unten bleiben."
Aber selbst von dort, von unten, beeindruckt die Baustelle. Es ist ein Vormittag Ende April. Um die verbliebenen Pfeilerpaare wuseln Arbeiter mit Gehörschutz. Winzig im Vergleich zu den ausgefransten Resten der Brücke. Sie treiben Bohrmaschinen in die Pfeiler. Kreischend entstehen so die Löcher für den Sprengstoff, der die Betonkolosse später stürzen soll. Neonbunte Markierungen knapp über dem Boden und in gut 20 Metern Höhe zeigen, wo die Sprengschnüre detonieren werden.
Verantwortlich dafür, dass das gelingt, ist Sprengmeister Eduard Reisch. Der 57-Jährige ist seit mehr als drei Jahrzehnten Sprengberechtigter, gilt bundesweit als Experte. Viele Tausend Mal hat er auf den Knopf gedrückt. Trotzdem sei die Talbrücke eine Herausforderung: Weder die wenige Meter entfernt stehenden Häuser noch der bereits fertiggestellte Teil des Brückenneubaus dürfen beschädigt werden.
"Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" werde nichts schief gehen, sagt Reisch vor dem Finale des Brückenabbruchs. Nervös wirkt er nicht. Die Kippfiguren der Pfeiler, die Choreografie der Sprengung, das könne exakt berechnet werden. Abdeckungen aus Flies schützen die Häuser in der ersten Reihe, wie Spielzeug wirken sie neben den Betonriesen.
14. Mai 2019, der Tag der Sprengung. Der Bereich um die Reste der alten A3-Brücke ist an diesem Morgen Sperrgebiet. Polizisten sichern die Zone, ein Hubschrauber kreist über dem Tal. Anwohner müssen ihre Häuser verlassen, auch Peter Wolz steht hinter dem Absperrband. Er hat sich extra frei genommen, will sich das "nicht entgehen lassen".
Um Punkt 11 Uhr sollen die letzten beiden originalen Pfeilerpaare und ein Hilfspfeilerpaar gesprengt werden. "So etwas sieht man nicht oft. Das ist schon etwas Besonderes", sagt Wolfgang Thaler. Wenn die Pfeiler gesprengt sind, ist der Rückbau fast geschafft. "Ein zwiespältiges Gefühl" für den Losbauführer. Irgendwie gehört die Baustelle längst dazu.
Kurz vor 11 Uhr. Ein lang gezogenes Hupen. Sprengmeister Eduard Reisch steht an einem kleinen Tisch mitten auf der Baustelle, vor ihm der orangene Kasten mit dem Zündknopf. Zwei kurze Signaltöne. Der Countdown. Der Knall. Die Zerstörung. Der letzte Akt.
"Eine hundertprozentig planmäßige Sprengung", wird Reisch später zufrieden sagen. "Es hat alles geklappt." Ohne Schäden, ohne Komplikationen. Nur wenige Minuten nachdem der 57-Jährige auf den Knopf gedrückt hat, machen sich die Bagger ans Werk, zerkleinern die gestürzten Riesen zu Rucksack-großen Brocken. Tack-Tack-Tack. Der Soundtrack der Baustelle setzt wieder ein.
Bis etwa Ende Juni noch. So lange werden die Aufräumarbeiten dauern, sagt Wolfgang Thaler. Dann soll aller Stahlbeton zerstückelt, aller Schutt verladen, alle Brocken abtransportiert sein. Dann ist die alte Brücke verschwunden.
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