Es knallt. Eine enorme Staubwolke schießt empor, gleichzeitig sackt der 116 Meter hohe Uni-Turm in Frankfurt in sich zusammen. Szenenwechsel. Wieder ein Knall, dann stürzt ein 14-stöckiges Hochhaus in München. Ein anderes Mal ist es der Kamin einer Zuckerfabrik. Ein Elefantenhaus im Tierpark. Oder eben eine Brücke, wie an diesem Dienstag in Würzburg: Um Punkt 11 Uhr werden die letzten Pfeilerpaare der A3-Talbrücke Heidingsfeld gesprengt. Auf den Knopf drücken wird, wie in Frankfurt, in München und Tausende Male zuvor, Sprengmeister Eduard Reisch.
Der 57-Jährige ist seit mehr als drei Jahrzehnten Sprengberechtigter. Offiziell. "Eigentlich hab ich schon mit fünf angefangen, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen", sagt Reisch und lacht. Waren es damals wahrscheinlich eher Bauklotz-Türme, die er einstürzen ließ, sind es heute Großbauwerke. Reisch absolvierte die Ausbildung zum Sprenghelfer, bestand die Prüfung, um selbstständig Sprengen zu dürfen, und durchlief zahlreiche Sonderlehrgänge – von Unterwasser- über Lawinensprengungen bis hin zum Sprengen von Bau- und Bauwerksteilen, der "Königsdisziplin". Heute gilt der 57-Jährige bundesweit als Experte.
Am Dienstag wird er in Würzburg auf den Auslöser drücken. Eine kleine Bewegung mit dem Daumen, die die elektronische Zündanlage startet. Beim Abriss der alten A3-Brücke ist das sozusagen der finale Streich. Die beiden verbliebenen originalen Pfeilerpaare sowie ein Hilfspfeilerpaar werden zeitgleich gesprengt. Mit Blick auf die nahe stehenden Häuser und den bereits teilweise fertigen Brückenneubau "ist das schon eine Herausforderung", sagt Reisch. Eine, die durch exakte Vorbereitung und Planung berechenbar wird.
Bereits vor einigen Wochen wurden Löcher für die Sprengschnüre in die Pfeiler gebohrt, knapp über dem Boden und nochmal in gut 20 Metern Höhe. Zudem schnitten Arbeiter Keilstücke heraus und stabilisierten die Lücken wieder. Bei der Sprengung detonieren dann bis zu 1,20 Meter lange Schnüre mit 40 bis 100 Gramm hochbrisantem Sprengstoff in den Löchern. Die Statik wird zerstört und die Pfeiler klappen zusammen. "Stellen Sie sich einen Baum vor, bei dem unten ein Keil rausgenommen und in der Mitte zeitgleich ein gegenläufiger Keil entfernt wird", sagt Reisch. So werden die Betonriesen quasi zusammengefaltet, ähnlich wie ein Zollstock. Zumindest zwei der Pfeilerpaare, Pfeiler 7 mit stolzen 65 Metern Höhe, und das "kleinere" Hilfspfeilerpaar 7a.
Pfeilerpaar 8, direkt neben der Heuchelhofstraße, hingegen soll eine eigene Choreografie hinlegen. Halbkreisförmig soll es zu Boden gehen und dann schräg am Hang nach unten gleiten. Wie die Bauwerke fallen, lässt sich laut Reisch mit Programmen und aus Erfahrungswerten exakt berechnen. "Man weiß sehr genau, wie diese einzelnen Kippfiguren aussehen werden und wie die Endlage der zu sprengenden Pfeiler sein wird."
Kurz bevor es knallt, werden an der Baustelle drei Signaltöne erklingen. Ein langgezogener Ton knapp vor 11 Uhr, darauf folgen zwei kurze Töne – und dann die Sprengung. Reisch steht dabei an der Zündstelle. Der 57-Jährige trägt die Verantwortung, er prüft sofort vor Ort das Ergebnis. Um 11.15 Uhr, so der Plan, gibt er Entwarnung. Wenn alles klappt.
Kann denn etwas schief gehen? "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht", sagt Reisch. Alle Methoden seien bewährt, häufig eingesetzt und erprobt, ohne Schäden zu verursachen. Zudem greifen Schutzmaßnahmen. In einer Sicherheitszone von 200 Metern um den Sprengort darf sich niemand aufhalten. Eine "ganze Hundertschaft" sichere den Bereich, so Reisch. Anwohner müssen ihre Häuser verlassen. Die Autobahn wird voll gesperrt, ebenso angrenzende Straßen. Und: Um die nahe stehenden Häuser und den bereits fertiggestellten Teil der neuen A3-Talbrücke vor Sprengstreuflug zu schützen, werden tonnenschwere Schutzmatten aus Gummi um die Pfeiler drapiert. "Auf der einen Seite muss es ja zerstört werden", sagt Reisch. Andererseits darf seine Arbeit keine ungewollte Zerstörung, keinen weiteren Schaden, anrichten. "Da stehen wir in der Pflicht und dafür werden wir alles tun."
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Für Reisch und seine Mitarbeiter ist das Alltag. Das Unternehmen aus Apfeldorf (Oberbayern) betreut pro Woche meist mehrere Sprengungen, in ganz Deutschland, zum Teil auch weltweit. "Ich selber habe sicher viele Tausend Sprengungen durchgeführt – vom Stellen der Sprengbohrlöcher bis final zum Knopf drücken", sagt der 57-Jährige. Mit rasendem Pulsschlag stehe er heute nicht mehr am Auslöser. Aber "es gibt natürlich einen gewissen sozialen Stress, weil man in der Verantwortung steht", sagt Reisch. Gegenüber den Menschen, aber auch gegenüber den zu schützenden Objekten. "Wenn ich für mich das Gefühl habe, ich habe alles Notwendige getan, um die Sicherheit aller zu gewährleisten, bin ich zum Zeitpunkt der Sprengung relativ ruhig." Voraussetzung: Alles muss planmäßig laufen.
Und was, wenn nicht? "Man muss immer einen Plan B im Kopf haben", sagt Reisch. Sollte etwa in Würzburg-Heidingsfeld die Zündung nicht ausgelöst werden, "werden alle Absperrungen vollständig erhalten". Er prüfe dann, warum die Sprengung nicht erfolgt. Meist stecke dahinter ein elektronisches Problem. Wenn es wider Erwarten zu Schäden komme, etwa an Dächern oder Glasscheiben, werde das umgehend behoben. "Das ist überschaubar, da kann man schnell reagieren." Nur das Wetter, das bleibt als Unsicherheitsfaktor: "Bei dichtem Nebel mit Sichtweiten unter 50 Metern oder bei extrem dichtem Schneetreiben könnten wir die Sprengung nicht durchführen", sagt Reisch.
Der 57-Jährige hat seinen Kindheitstraum längst verwirklicht. Aus seinem Ein-Mann-Betrieb wurde ein Unternehmen mit 25 Mitarbeitern. Und was war die spektakulärste Sprengung seiner Karriere? Der Uni-Turm in Frankfurt (AfE-Turm) "ist nach wie vor das Highlight, das war wirklich die herausragende Sprengung", sagt Reisch ohne zu Zögern. Es war das höchste Haus, das je in Europa gesprengt wurde. Fast eine Tonne Sprengstoff hatte Reisch damals, 2014, gezündet. Alles lief glatt. "Das ist so, wie wenn ein Fußballspieler aus 100 Metern ein Tor mit einem Quadratmeter beim ersten Schuss trifft. Das waren Superlative in jeglicher Hinsicht."
Die Begeisterung für seine Arbeit schwingt bei Reisch in jedem Wort mit. Überheblich klingt er dabei nicht, nie vergisst er den Dank an Mitarbeiter, Kooperationspartner, Berater. "Ich mache das nach wie vor mit großer Leidenschaft", sagt der 57-Jährige. Sprengmeister sein, das sei für ihn eben eher Berufung als Beruf.