Es gibt Menschen, die das Glück haben, ihre Leidenschaft zum Beruf machen zu können. Gregor Metzig, der Leiter des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Schweinfurt, ist so jemand. Sein Berufswunsch stand nach dem zweiten Semester Geschichtswissenschaften und Romanische Sprachen fest: das Archiv einer geschichtsträchtigen und zugleich lebendig-zukunftsorientierten Stadt zu leiten.
Nach Promotion, zwei Jahren Archivreferendariat und vier Jahren Tätigkeit als wissenschaftlicher Archivar im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv, wurde ihm mit 39 Jahren im Sommer 2022 etwas Besonderes anvertraut: das Gedächtnis der Stadt Schweinfurt.
Gedächtnis der Stadt, für Gregor Metzig ist das die passendste Beschreibung für ein Stadtarchiv. Am Schweinfurter Archivgut schätzt er dessen Geschlossenheit und Vielseitigkeit. Trotz Kriegen, Bränden, Plünderungen: Es ist erstaunlich viel erhalten geblieben aus früheren Jahrhunderten. Die Aufzeichnungen im Stadtarchiv reichen vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die Stadtbibliothek verfügt sogar über einige Handschriften aus dem frühen Mittelalter.
Der Sitz des Archivs, der Friedrich-Rückert-Bau, wurde 1962 fertiggestellt. Er ist einer der ersten kommunalen Archivzweckbauten, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden. Um sich die Größenordnung vorzustellen: Allein die Ablageflächen belaufen sich aneinandergereiht auf circa 7168 laufende Meter.
Reichsstadt, Industriestandort, Hochburg von Revolutionären und Erfindern, Sitz von Bürgerstolz und Arbeiterbewegung, Schauplatz von Kriegen vom Mittelalter bis zu den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg: Im Kleinen zeigt sich hier im Schweinfurter Stadtarchiv die große Weltgeschichte. Wie, dafür hat Gregor Metzig beispielhaft neun Urkunden, Dokumente und Fotos herausgesucht.
1. Das Pergament aus dem 9. Jahrhundert, das als Bucheinband recycelt worden war
Das älteste Stück ist eines der wertvollsten. Und ein Zufallsfund sozusagen. Gregor Metzig zieht sich die Stoffhandschuhe an, Berufskleidung für Archivare, denn die Objekte müssen vor Verunreinigungen und Beeinträchtigungen geschützt werden.
Behutsam klappt er eine Mappe auf. Darin ein Pergament aus dem 9. Jahrhundert. Es sieht aus wie neu, ist perfekt zu lesen. Die Seiten stammen aus einer Latein-Grammatik, verfasst von Priscian, der um 500 nach Christus in Konstantinopel lebte. Die Grammatik stammt wohl aus einer nordfranzösischen Klosterbibliothek, gelangte nach Bamberg - und teilte dann das Schicksal vieler frühmittelalterlicher Pergamente. Sie wurde als Bucheinband benutzt. So auch in Schweinfurt. Erst im 20. Jahrhundert ist jemandem aufgefallen, dass da ein städtisches Rechnungsbuch in einen besonderen Schutzumschlag gesteckt worden war.
Warum ist das Pergament noch so gut zu lesen? Das liegt einerseits am Material. "Pergament ist der beste Beschreibstoff aller Zeiten", sagt Metzig. Wenn es nicht verbrannt oder zerstört wird, bleibt es über die Jahrhunderte lesbar. Zum anderen liegt es an der Schrift, der karolingischen Minuskel, einer Reformschrift entwickelt am Kaiserhof Karls des Großen. Mit ihren eindeutig voneinander abgesetzten Buchstaben, ihren klaren Linien und Oberlängen ist sie auch noch heute gut zu lesen.
2. Die Urkunde, mit der König Wenzel der Faule Schweinfurt die Brückenmaut ermöglichte
"Sieht aus wie gestern geschrieben", zeigt Archivar Metzig auf eine Urkunde aus dem Jahr 1397. König Wenzel, dem frühere Historiker den wenig schmeichelhaften Beinamen der Faule verpassten, ließ das Dokument in Prag aufsetzen. Darin verleiht er der Reichsstadt Mautrecht. Jeder, der über die Schweinfurter Mainbrücke ging oder fuhr, musste zahlen. Eine gewinnbringende Sache für die Schweinfurter.
Denn Brücken waren rar. Die nächste, die über den Main führte, lag damals in Würzburg. Mit der Passage über den Main ließ sich gut Geld verdienen. In der Urkunde sind die Preise festgelegt: 10 Würzburger Pfennige für einen Wagen, 1 Pfennig für einen Karren, ein halber Pfennig für Ochse oder Kuh.
3. Der Dankbrief, den Rathaus-Baumeister Nickel Hoffman aus Halle schickte
Wenige Monate vor seinem Tod schrieb Baumeister Nickel Hoffman mit 77 Jahren aus seiner Heimat Halle an die Stadt Schweinfurt. Zittrig erscheint die Hand, die Feder musste stark aufgedrückt werden. Er bedankt sich darin bei der "löblichen Stadt Schweinfurt" für seinen Ehrenwein. Das war sozusagen Teil einer städtischen Rente.
Nickel leitete den Schweinfurter Rathausbau in den Jahren 1570 bis 1572. Der Schweinfurter Wein wurde jahrelang per Bote nach Halle gebracht, erzählt Metzig. Hoffman hat dem Dankschreiben sein Papiersiegel aufgedrückt: "Er war ein stolzer und standesbewusster Baumeister."
4. Die Urkunde, mit der Kaiser Maximilian 1514 für Ordnung in Schweinfurt sorgte
"1514 war in Schweinfurt die Hölle los", schildert Gregor Metzig und entrollt eine tischtuchgroße Urkunde mit rotem, kaiserlichen Siegel. Die Bürger waren gegen die da oben, die Ratsherren, aufgestanden. Unwille und Empörung habe geherrscht, heißt es in Quellen. Der Aufstand dauerte nur kurz. Mit kaiserlicher Hilfe wurden altes Recht und alte Zustände wieder hergestellt. Maximilian war daran gelegen, sich auf die Rats-Elite verlasen zu können. Folge: "Der Rat herrschte danach fast unumschränkt. " Diese Urkunde beschreibt Metzig folglich als eine Art Grundgesetz für die Reichsstadt.
5. Die Liste für das Menu, das 1801 den napoleonischen General-Lieutenant bei Laune halten sollte
Im März 1801 wurde gewaltig aufgetischt in Schweinfurt. Hühner, Hammel, Rind, Süßspeisen und etliche Flaschen Wein ("30 grüne Bouteillen nebst Stöpseln"), alles für den napoleonischen General-Lieutenant Duhesme. Wer genau zu dem Bankett geladen war, weiß Metzig nicht. Aber was gegessen und getrunken wurde und was alles gekostet hat.
Denn die Preise sind auch vermerkt. Für das Bankett wurde nämlich eine exakte Einkaufsliste auf deutsch und französisch verfasst. Sie ist in einem Rechnungsbuch erhalten - und zwar detailliert. Sogar zwei Muskatnüsse werden aufgeführt. Der Schreiber der Listen zeigt sich kritisch. "Ja so viel" habe das die Stadt gekostet für einen Mann– nicht dem "gemeinen" Wesen.
1801 hatte sich Bayern entschlossen, in den so genannten Koalitionskriegen die Seiten zu wechseln und kämpfte jetzt auf Seiten Napoleons, nicht mehr auf der Seite Österreichs. Napoleons Herrschaft hatte große Folgen für die Region. Hochstift Würzburg, Reichsstadt Schweinfurt: Napoleon machte damit Schluss.
6. Das Urkataster der Stadt von 1834, das Grundlage für Besteuerung wurde
Alte Mühle und Staubbrücke, die überdachte Holzbrücke über den Main, ähnlich der Krämer-Brücke in Erfurt, sind noch zu sehen auf dem kolorierten Urkataster aus dem Jahr 1834. Unter dem Begriff Urkataster versteht man das erste Verzeichnis von Grundstücken, Besitzrechten oder zu leistenden Abgaben. Bis auf das im Jahr zuvor abgebrochene Brückentor ist die Stadtbefestigung darauf fast noch komplett erhalten zu sehen. Jedes Haus, jede Fläche ist registriert. Hintergrund: Der Staat will die Bürger besteuern.
7. Das Liederbuch des Liederkranzes von 1848, das Catharina Sattler illustrierte
Gregor Metzig hat noch ein Schatzkästchen herausgesucht. "Ein, edles, rares Stück", verpackt in eine wunderschöne Samtschatulle: das Album des Liederkranzes. Eine Mischung aus Bilderbuch, Mitgliederverzeichnis und Erinnerungen. Die Schließe trägt das Datum 15. Juni 1848. Illustriert hat das Album Catharina Sattler, geboren 1789 in Schweinfurt als Tochter des Portraitmalers Conrad Geiger. Sie heiratete später den Fabrikanten Wilhelm Sattler, mit dem sie auf Schloss Mainberg lebte. Szenen aus Mainberg sind mehrere in dem Album zu sehen.
Catharina Sattlers Sohn Jens hatte den Liederkranz am 23. November 1833 ins Leben gerufen, überließ der Mutter aber die Ehre offiziell als Stifterin zu firmieren. "Gesangsvereine waren damals hochpolitisch", sagt der Stadtarchivar. Man traf sich nicht nur um zu singen, sondern um ein einigendes Nationalgefühl zu erzeugen.
Schweinfurt war laut Metzig eine Hochburg der 1848er Revolution. Jens Sattler wanderte als politischer Emigrant 1850 mit seinen beiden Söhnen nach Amerika aus. 1855 kehrte er wieder an den Main zurück.
8.Die Meldekarte von Felix Brandis, der vor den Nazis nach Amsterdam floh
Am 15. Juni 1934 zog Felix Brandis, ein bekannter Schweinfurter Rechtsanwalt und hochdekorierter Offizier im Ersten Weltkrieg, aus Schweinfurt weg und floh nach Amsterdam. Handschriftlich ist das auf seinem Schweinfurter Meldebogen vermerkt. Felix Brandis war Jude. In den Niederlanden arbeitete er als Bankangestellter, weil ihm die Nazis seine Anwaltszulassung entzogen hatten.
Die deutsche Besatzung überlebte Brandis versteckt in einem geheimen Keller. Nach dem Krieg blieb er in Holland und arbeitete weiter als Angestellter einer Amsterdamer Bank. Er starb 1949, im Alter von 62 Jahren.
9. Ein Foto aus dem Krieg, das nach dem Luftangriff vom 19. Juli 1944 gemacht wurde
Hans Uhlenhuth hat die Ruine der eigenen Existenz fotografiert, beschreibt Gregor Metzig dieses Foto vom Dürer-Platz. Der Schweinfurter Fotograf hat es nach dem Bombenangriff am 19. Juli 1944 gemacht. Im Gebäude im Hintergrund war sein Fotogeschäft untergebracht. Die Nazis hatten Uhlenhuth 1943 beauftragt, die Kriegszerstörungen durch die Bombenangriffe in der Stadt zu dokumentieren, wohl auch um nach einem gewonnenen Krieg die Alliierten mit den angerichteten Schäden konfrontieren zu können. 209 Uhlenhuth-Fotos sind insgesamt im Stadtarchiv erhalten, inzwischen sind sie auch digital verfügbar.