
Mit dem Staatsgebäude, im doppelten Wortsinn, steht oder fällt die Selbstbehauptung eines ganzen Landes. Aktuell zeigt sich der ukrainische Präsident Selenskyi bei seinen Videobotschaften oft vor symbolträchtigen Bauten, um Durchhaltewillen zu demonstrieren, gegen aggressive Nachbarn. Darauf verwies der neue Stadtarchivar Gregor Metzig.
Der Historiker hat sich im Jubiläumsjahr mit 450 Jahren Rathausgeschichte beschäftigt. Es geht um die einstige "Residenz des Rates", um Macht, Architektur und deren Funktion, beim Vortrag in der ebenso gut wie prominent besuchten Rathausdiele. OB Sebastian Remelé sowie Uwe Müller, Vorgänger als Stadtarchivar und Leiter des Historischen Vereins, übernahmen die Begrüßung: Im Renaissancebau, der trotz Feuersbrunst von 1959 oder schwerer Kriegsstürme noch weitgehend original erhalten ist und als einer der schönsten seiner Art in Süddeutschland gilt.
Eine sportliche These sei das mit der "Residenz", gibt Metzig zu. Schließlich haben am Marktplatz freie Bürger über die Geschicke ihrer Stadt bestimmt, schon im Jahr der Einweihung 1572. Allerdings hatte das Weltbild der Stadtoberen, das bis zum Ende der "Freien und Reichsstadt" 1802 herrschte, wenig mit heutigem Demokratieverständnis zu tun. Nur ein Bruchteil unter rund 3500 Einwohnern besaß überhaupt das Bürgerrecht, im ständisch-hierarchisch geprägten Zwergstaat. Dessen regierender Oligarchenclub sah sich einem fernen König unterstellt und ansonsten nur noch der göttlichen Ordnung.
Bürgerstolz und Gemeinsinn
"Etwas naiv" sei die frühere Deutung des Rathausbaus als Zeichen von "Bürgerstolz und Gemeinsinn" gewesen, sagte Metzig. Laut Quellenforscher sollten Turm, Laubengang und Freitreppe den gleichen Machtanspruch demonstrieren wie manch fürstliches Schloss der Umgebung. Die "Residenz des Rates" sei herrschaftliches Handlungs- und Legitimationszentrum gewesen, im Stil eines Palazzo.
Jeder konnte auf den ersten Blick erkennen, wer Herr, wer Knecht war, in der von reichen Händlern dominierten Stadtrepublik. Die Bürger fanden alle im heutigen Ratssaal Platz, im älteren, gotischen Südflügel, der als "Kauf- und Tanzhaus" diente. Das offizielle Ratsszepter von 1737 wurde mitunter als harte Knute geschwungen. Die Ratsherren wachten über Kirchenangelegenheiten, Handel und Gewerbe, Maße, Gewichte, Polizei, Kriegswesen und nicht zuletzt ihr Archiv.
Es gab Kerker sowie Richtstätten an "Seelenvater" oder "Galgenleite". Unter den Dachgauben lagerten Getreidevorräte. Das Ratskollegium kürte seine Mitglieder durch Kooptation, sprich Zuwahl aus den eigenen Reihen. Der König wurde durch die schlichte Reichsvogtei in der Oberen Straße vertreten. Die Krongewalt griff selten ein, etwa, wenn das Rathaus gestürmt wurde, bei blutigen Aufständen 1446 oder 1513, dann aber mit drakonischer Härte.
Es war schon das dritte Rathaus der Stadt, das ab 1570 durch den Hallenser Stararchitekten Nikolaus Hoffmann (1510 - 1592) am Markt und den Hauptverkehrsachsen gebaut worden ist. Ein Vorgängerbau war 1554 im Markgräflerkrieg abgebrannt. Der Erkerturm strich die Bedeutung der darunter liegenden Ratsstube (des heutigen Trausaals) heraus, als "Kommandobrücke" mit guter Sicht zu den meisten Torwachen.
Von "Ehrsamer Weisheit" begutachtet
Von der Balustrade mit den Kurfürstenwappen aus wurden dem Volk Neuigkeiten verkündet. Stadtknechte kontrollierten den exklusiven Zugang über die beiden Treppenhäuser zur Rathausdiele. Wo der heutige Besucher in den Garderobenspiegel schaut, befand sich eine Dunkelkammer als Durchgang. Die Eintretenden wurden geblendet, im Ratssaal mit den großen Glasfenstern, und von der "Ehrsamen Weisheit" begutachtet – so die korrekte Anrede für den Rat, für den humanistische Bildung hip und das Gegenstück zur vornehmen Abstammung des Adels war.
Dafür stand auch das "elitäre Bildprogramm" am Gebäude, voller Anspielungen auf antike Mythologie. Manche der "Gaffköpfe" in Holz und Stein oder "Zwickelreliefs" an den Torbögen sind selbst für heutige Experten nur schwer zu deuten. Auch das leibliche Wohl kam zwischen Eisenöfen und Weinkeller nicht zu kurz, ein Chronist beklagte "Schlemmerei".
Nickel Hoffmann hat seinen Auftraggebern viel Glamour und Komfort geboten, für 23.805 Gulden, eine Investition, die 44 Jahre lang abgestottert werden musste. In Euro gerechnet wäre das eine zweistellige Millionensumme. Schon die Abholung des bärtigen Prachtbaumeisters, weit vor den Toren der Stadt, soll mit ziemlichen Unkosten verbunden gewesen sein.
Sorge galt den Oechslegraden
Hoffmanns späterer Schriftwechsel mit dem Rat ist erhalten: "Zu 80 Prozent geht es ums Wetter". Die Sorge galt, sozusagen, den Oechslegraden: Die Schweinfurter Oligarchen hatten ihrem Hofarchitekten ein jährliches Leibgedinge von einem Halbfuder Wein zugedacht, eine Ehrenrente in Form von fünf Hektolitern Rebensaft.
Die Rechnungen dokumentieren manch Arbeitsunfall oder Schlägerei – aber auch die Beteiligung von Frau Hoffmann, die das Rathaus mit Vorhängen aus "vier Ballen grüner Leinwand" drapiert hat. Viele Dokumente finden sich digital unter www.stadtarchiv-schweinfurt.de. Im Jahr 2022 gibt es ausdauernden Beifall, für das Bauwerk, vor allem aber den Referenten und eine gelungene "Renaissance" der Schweinfurter Geschichtsvorträge.





