Die Geschichte beginnt in Paris, am 14. Juli 1789. Revolution! Die Pariser stürmen die Bastille, Köpfe rollen. Ihrem König nehmen sie, auf der Suche nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, erst die Macht, dann das Leben. In den Wirren wird ein kleiner Mann ganz groß: Napoleon. Mit Bajonetten und Kanonen tragen er und seine Grande Armée Aufklärung und Revolution durch Europa. Der Main hält sie nicht auf.
1802/03 sind sie hier fertig. Ihre Bilanz: Der kleine selbstständige Staat Hochstift Würzburg, regiert vom Fürstbischof – kaputt. Die Unabhängigkeit der Schweinfurter in ihrer Reichsstadt – kaputt. Das Kurfürstentum Mainz mit Regierungssitz in Aschaffenburg – auch kaputt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben sie das ganze Heilige römische Reich deutscher Nation zu Klump gehauen und die Trümmer neu verteilt.
„Heiliges römisches Reich deutscher Nation“ war ein großspuriger Name für ein 800 Jahre dauerndes Sammelsurium von kleinen und kleinsten Fürstentümern, geistlichen Staaten und freien Reichsstädten, regiert von Kaisern im Verein mit Fürsten, ständig in Streit und Fehde untereinander. Eine Nation, wie Frankreich eine war, war das nicht.
1802/03 wertet Napoleon das Hochstift Würzburg und die Reichsstadt Schweinfurt zur nordbayerischen Provinz ab; er schlägt sie dem Kurfürstentum Bayern zu. Aschaffenburg erhebt er zum Fürstentum – Liberté, Égalité und Fraternité sind auf der Strecke geblieben.
Napoleon mixt zusammen, was nicht zusammengehört
Von Unterfranken ist noch nirgendwo die Rede. Das gibt es noch nicht mal als Idee.
1805 nimmt der Imperator den Bayern Würzburg und Schweinfurt wieder ab. Er macht ein Großherzogtum daraus, als Gabe für den kleinen Bruder des österreichischen Kaisers. 1810 beendet er die Fürstenherrlichkeit in Aschaffenburg; sie geht im Großherzogtum Frankfurt unter.
Napoleon gibt, Napoleon nimmt. Seine Neuordnung des Reichs ist für Fürsten und Untertanen ein Mix aus Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht. Hunderttausende bezahlen das Spiel mit ihrem Leben. 1814 ist La Grande Armée geschlagen. Die Siegermächte verteilen die Ländereien neu.
1814 bekommt Bayern – seit 1806 ist es ein Königreich – Würzburg und Schweinfurt wieder und Aschaffenburg dazu. Bayern macht einen von 17 Regierungskreisen daraus. 1816 kommt noch was dazu: Brückenau, Hammelburg, Alzenau, Amorbach, Miltenberg und Kleinheubach.
Und immer noch spricht niemand von Unterfranken.
Für die unterfränkischen Dörfler und Städter ist der nächste Ort schon Ausland
Der neue Regierungskreis ist ein eigenartiges Gebilde, ohne Bezug zu Bayern, ohne Bezug untereinander und ohne gemeinsame Identität und Geschichte. Die Bewohner sprechen nicht einmal dieselbe Sprache. Östlich des Spessarts ratschen sie auf Ostfränkisch, westlich davon babbeln sie Rheinfränkisch. Die Aschaffenburger orientieren sich nach Frankfurt. Schweinfurt entwickelt sich zum industriellen Zentrum. Würzburg ist eine Beamten- und Universitätsstadt.
Die Unterschiede sind noch tiefer. Kurt Töpner, einst Bezirksheimatpfleger Mittelfrankens, schreibt: „Für den fränkischen Dörfler und Städter war vielfach der nächste Ort schon wieder Ausland.“ Zersplittert sei die Welt der Leute gewesen, mit der Folge, dass ihr „Patriotismus enger, kleinräumiger und differenzierter war und in seinen Nachwirkungen immer noch ist“.
Das ist neu: Die Regierung muss sich ans Gesetz halten
Und in München sitzt der König in seiner Residenz und fragt sich, wie er ein einiges Königreich erlangen könnte, wenn schon seine Untertanen einander fremd sind. Einig sind die sich nur in einem: Sie wollen die Bayern und ihre Reformen nicht.
Sie wollen sie auch wegen dem Grafen Montgelas nicht. Der Minister und Staatsreformer in Diensten des Königs meint, die Bürger wüssten nicht, was gut ist für sie. Er will ein modernes Bayern aufbauen, ohne sie zu hören. Er treibt voran, was mancher heute noch zu erkennen glaubt: eine Zentralisierung von Regierungsgewalt und Verwaltung, mit München als Zentrum.
Münchens Stellvertreter im Untermainkreis, „General-Kommissär“ und Regierungspräsident in einem, muss umsetzen, was aus München kommt. Eigene Kompetenzen hat er nicht.
Der König, Maximilian I. Joseph, ist aufgeklärter und fortschrittlicher als sein Minister. Am 27. März 1817 definiert der Monarch die Hauptaufgabe der Kreisregierungen neu: Sie sollen „die Rechte Unserer Krone, das beste des Staates, und die allgemeine Wohlfahrt Unsrer treuen Unterthanen (. . .) wahren und (. . .) befördern.“ Der König schafft etwas, was die Würzburger unter ihrem Fürstbischof nicht kannten: Rechtssicherheit für alle, zumindest theoretisch. Er verordnet den Kreisregierungen, das Einhalten der Verfassung zu achten und sich selbst „genau an die bestehenden Gesetze, Verordnungen und Reglements zu halten“.
Am 1. April 1817 geht's los
Aus den bis zu 17 Regierungskreisen macht er acht. Die alten territorialen und politischen Grenzen ignoriert er, Bayern soll neu erschaffen sein. Die Kreise benennt er nach Flüssen: Isarkreis, Oberdonaukreis, Unterdonaukreis, Rezatkreis, Untermainkreis, Obermainkreis, Regenkreis und Rheinkreis.
Und so nimmt vor 200 Jahren, am 1. April 1817, als verlängerter Arm von München die königlich-baierische Regierung des Untermainkreises ihre Arbeit auf. Nichts mit Rechtsstaatlichkeit hat eine weitere Reform zu tun: Die Regierung ist erste und zweite Instanz im Bereich der Administrativ-, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit und erste Instanz beim Disziplinargericht. Eine Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative gibt es nicht.
Der erste Regierungspräsident des Untermainkreises ist ein Adeliger, wie einige seiner Nachfolger auch. Franz-Wilhelm Freiherr von Asbeck heißt er, aus Westfalen stammt er, bis 1825 regiert er.
Der Regierungspräsident sorgt für Sittlichkeit an der Uni
Der Historiker Dirk Götschmann berichtet, dass die Regierungspräsidenten dank der Reform nun größere Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten hatten. Sie unterschieden sich trotzdem von dem, was der aktuelle, der 26. Regierungspräsident Paul Beinhofer zu tun hat. Asbeck zum Beispiel ist zuständig für die Studenten. Er hat „den Geist“ der Vorträge der akademischen Lehrer „sorgfältig zu beobachten“ und ihm „eine heilsame (.. .) Richtung zu geben“. Der Regierungspräsident soll an der Uni „Allem, was zur Beförderung der Sittlichkeit, der guten Ordnung und des äußern Anstandes unter den Studierenden dienen kann, seine unausgesetzte Aufmerksamkeit“ widmen.
Zum 1. Januar 1838 benennt die Staatsverwaltung den Untermainkreis um. Jetzt heißt er „Regierungskreis Unterfranken und Aschaffenburg“.
Keine Einigkeit im unterfränkischen Schmelztiegel
Die Unterfranken aber wollen nicht zusammenwachsen. Königlicher Nachwuchs wird in der Würzburger Residenz großgezogen, um ihnen etwas zu geben, auf das sie stolz sein könnten. So wächst der spätere König Ludwig I. in Würzburg auf. Luitpold, der ewige Prinzregent, kommt in der Residenz zur Welt. Das Bemühen, Gemeinsamkeit – Identität – zu stiften, geht bis zum – in München geforderten – Entwurf einer unterfränkischen Tracht. Die Untertanen sind mäßig beeindruckt. Der Historiker Werner K. Blessing schreibt, „weltanschaulicher Widerstand und konfessionelle Verwerfungen polarisierten (. . .) das soziale Leben, die kulturellen Formen, die politischen Verhältnisse sehr“.
Die einzige Klammer, die Unterfranken zusammenhält, ist die Bezirksregierung. Zu ihr müssen alle gehen, ob es um die Organisation des Bildungswesens geht oder um Polizei- und Kirchenangelegenheiten, die Gesundheitsversorgung oder Stiftungen.
Die Nazis erfinden "Mainfranken"
1850 zieht die Regierung im ehemaligen Benediktinerkloster am Würzburger Peterplatz ein, da hat sie rund 150 Bedienstete. Heute sind es, am gleichen Ort, fast 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
1933 schalten die Nationalsozialisten die Regierung gleich. NSDAP, Staat und Staatsverwaltung sind eins. Otto Helmuth, der Gauleiter der NSDAP, macht sich zum Regierungspräsidenten und benennt die Region neu: Ab 1938 heißt der Regierungsbezirk „Mainfranken“.
Erst nach der Befreiung von den Nazis bekommt der Bezirk den Namen, den er heute trägt: Regierungsbezirk Unterfranken, ohne den Zusatz Aschaffenburg.