Wie viel wert ist uns als Gesellschaft die Kultur ? Was verstehen wir überhaupt unter Kultur? Wie behandeln wir die, die uns Kultur liefern? Und wie behandelt der Kulturbetrieb uns, das Publikum? Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten. Vielleicht können die hier angeführten Vorschläge einen Beitrag zu einer Debatte liefern, die hoffentlich bald geführt wird. Fünf Lehren, die wir aus der Pandemie ziehen sollten:
1. Mehr Entschlossenheit: Der nächste Lockdown kommt bestimmt
"Ach, ich warte lieber, bis die Maskenpflicht weg ist." Wer mit dieser Begründung in den vergangenen zwei Jahren einen Konzert-, Theater- oder Museumsbesuch aufschob, der dürfte nicht allzu viel erlebt und einiges verpasst haben. Und dass Online-Formate, so kreativ sie gelegentlich auch waren, kein Live-Erlebnis ersetzen können, müsste inzwischen allen klar sein.
Natürlich soll, wer sich nicht sicher fühlt, unbedingt zuhause bleiben. Alle anderen aber sollten sich klarmachen, dass sehr schnell wieder alles dicht sein könnte, und dann gibt's wieder nur Kultur im Netz oder aus der Konserve. Außerdem ist der Mund-Nasen-Schutz eine kleine Unannehmlichkeit, verglichen mit den enormen Anstrengungen, die Veranstalter derzeit auf sich nehmen müssen, um überhaupt Kultur anbieten zu dürfen.
2. Mehr Nachdruck: Kultur braucht dringend eine echte Lobby
Eines hat die Pandemie in Sachen Kultur gezeigt: Auf die Politik ist kein Verlass. Einsortiert zwischen Spielhallen und Bordellen, abgetan als Freizeiteinrichtungen, werden Kulturstätten als erste geschlossen und als letzte wieder geöffnet – und dann am liebsten mit minimalen Zuschauerzahlen. Zudem haben die Lockdowns gezeigt, dass viele Freischaffende schnell an den Rand des Ruins gelangen, wenn sie nicht arbeiten dürfen. Und es dauerte lange, bis die öffentliche Hand einigermaßen passende Hilfen entwickelt hatte. Immerhin: Die Kultusministerkonferenz will sich jetzt Gedanken über eine bessere soziale Absicherung machen.
Das Problem: Kultur hat keine Lobby. Es gibt unzählige Verbände, aber keine gemeinsame Stimme. In der Verfassung des Freistaats steht zwar "Bayern ist ein Kulturstaat", aber solange Kultur gleichzeitig für die Kommunen eine "freiwillige Aufgabe" bleibt, ist diese Behauptung nicht allzu viel wert. Erfahrungsgemäß tun sich Künstlerinnen und Künstler mit Gremienarbeit und PR eher schwer. Aber wenn es ihnen nicht viel nachdrücklicher gelingt, gemeinsam zum Beispiel die immense Bedeutung von Kultur für die Gesamtwirtschaft aufzuzeigen, wird sich nichts ändern.
3. Mehr Komfort: Die Konkurrenz ist das heimische Sofa
Wer dachte, die Menschen würden, ausgehungert nach Kultur, bei der ersten Gelegenheit die Theater stürmen, der irrte. Im Schneeregen warten, bis Ausweis, Impfnachweis und Schnelltest gecheckt sind, auf die Pause verzichten und vor den Toiletten Schlange stehen, weil die nur einzeln betreten werden dürfen – nicht jedermanns Idealvorstellung eines Kulturerlebnisses. Dass es dennoch gar nicht so wenige tun, macht Hoffnung.
Doch die Konkurrenz ist nicht ein Überangebot an Kultur, sondern das Sofa daheim. Es geht schlicht und einfach um Komfort. Schon fangen erste Kinobetreiber an, Säle mit Sesseln und Tischchen auszustatten – als Alternative zum Heimkino, wo man sich ja auch nicht durch die Reihen quälen muss, wenn man Popcorn-Nachschub braucht.
Das wird sich nicht ohne weiteres auf andere Sparten anwenden lassen. Schließlich lebt ein gemeinsames Theatererlebnis auch von der Verdichtung – das ist einem Stadionbesuch gar nicht so unähnlich. Aber es sind durchaus Formate denkbar, in denen ein wenig mehr Beinfreiheit und Zwanglosigkeit funktionieren könnten. Man muss deshalb ja nicht gleich beim Liederabend Popcorn anbieten.
4. Mehr Aufklärung: Das Publikum ist ein scheues Reh
Weite Teile unseres Kulturbetriebs fußen auf Strukturen, die im 19. Jahrhundert entstanden, als Bildungshunger Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins war. Das Abonnement-System funktioniert bis heute – noch – bemerkenswert gut, aber der klassische Bildungsbürger ist akut vom Aussterben bedroht, und in den Schulen findet immer weniger musische Förderung statt. Theater und Museen, so hört man oft, können beim Publikum immer weniger voraussetzen.
Der heutige Gast ist ein scheues Reh – leicht ablenkbar, leicht zu verschrecken. Das liegt auch am unseligen Graben zwischen Unterhaltung und Kultur, der irgendwann nach dem Krieg entstanden sein muss: Wenn es Spaß macht, ist es Unterhaltung (und deshalb weniger wert), wenn es sperrig und anstrengend ist, ist es Kultur.
Das ist natürlich Unsinn. Kunst und Spaß schließen einander überhaupt nicht aus, und das müsste und könnte der Kulturbetrieb viel, viel stärker zeigen. Besser noch: erlebbar machen. Etwa mit Probierformaten für Einsteiger. Klassiker sind deshalb welche, weil sie zeitlos etwas über unser Dasein aussagen. Weil sie uns weiterhelfen. Und weil es eben auch sehr unterhaltsam sein kann, sich mit etwas tiefschürfenderen Fragen zu beschäftigen. Dazu muss man übrigens einen "Hamlet" noch nicht mal mit der Brechstange auf Tagesaktualität trimmen.
5. Mehr Mitwirkung: Kultur ist kein Konsumgut wie jedes andere
Es gab schon vor Corona ein grundsätzliches Problem, die Pandemie hat es verschärft: Wir leben in einer Zeit der totalen Verfügbarkeit, in der Kultur nur noch eines von vielen Konsumgütern ist. Aber es ist eben nicht alles konservierbar und beliebig reproduzierbar. Künstlerinnen und Künstler brauchen Publikum. Und umgekehrt. Das heißt: Wer Kultur haben will, muss auch etwas dafür tun. Muss seinen Teil der Gleichung einbringen. Muss mitwirken. Muss mitdiskutieren. Muss Kultur einfordern, wenn sie – mal wieder – weggesperrt wird.
Es gab immer bürgerschaftliches Engagement in der Kultur. Aber während der Pandemie scheint eine Art Lähmung eingetreten zu sein. Wo bleibt der Aufschrei des Publikums? Wo sind die Fördervereine und Freundeskreise? Warum ist es ein nationales Problem, wenn der neueste Audi oder VW oder Mercedes erst in ein paar Monaten geliefert werden kann, aber völlig egal, dass die Theater einfach zu sind oder nur lachhaft wenige Gäste aufnehmen dürfen?
Kultur muss viel präsenter im Alltag werden. In allen Schularten müssen musische Fächer, Instrumentalunterricht, Museums- und Theaterbesuche angeboten werden – ohne Druck, dafür mit Herz und Leidenschaft. Zum Ausprobieren, Kennenlernen, Spaß haben. Als selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil unserer Zivilisation. Dann entsteht eine Lobby nicht nur aus denen, die mit Kultur ihre Brötchen verdienen, sondern aus allen, für die Kultur ein echtes Lebensmittel ist.