"Wir sind so ausgehungert!" Die Dame mit dem unterfränkischen Zungenschlag seufzt und strahlt gleichzeitig. Gerade hat sie am Staatstheater Wiesbaden mit knapp 200 weiteren Glücklichen einen Abend mit Auszügen aus "Tristan und Isolde" erlebt. Wagner-Weltstars wie Andreas Schager, Catherine Foster und René Pape. Kein Bühnenbild, kein Chor, kein Orchester, nur Klavier. Aber: Echte Menschen auf der Bühne, echte Menschen im Publikum. Welche Erleichterung, dass das wieder möglich ist. Zumindest in Hessen. In Bayern soll das erst ab 15. Juni gehen – mit maximal 50 Personen in geschlossenen Räumen.
In Wiesbaden gibt es derweil Oper unter hessischen Corona-Auflagen: weniger als 200 Zuschauer in einem Haus mit 1041 Plätzen. Jede zweite Reihe leer, immer drei Sitze Abstand. Paare dürfen beisammen sitzen. Pfeile auf dem Boden formen die überschaubare Besucherschar zur Einbahn-Prozession. An den Eingängen Desinfektionsmittel für die Hände, die Masken dürfen die Gäste abnehmen, sobald sie ihre Plätze eingenommen haben. Die Toiletten dürfen nur einzeln betreten werden, weshalb es - ungewohnt! - auch vor denen für die Männer zu Schlangen kommt.
Während der Vorstellung halten die Solisten auch in den intimsten Szenen ordentlich Abstand. Zum Schluss aber, während des minutenlangen Jubels, der gar nicht so viel schwächer klingt als wie in einem vollbesetzten Haus, fällt es ihnen sichtlich schwer, einander nicht an den Händen zu fassen. Oder in die Arme zu fallen. Der Bass René Pape hat seine Passage als zutiefst verletzter König Marke so intensiv gesungen, als mache er seinem ganzen Frust über die Monate der Verbannung und der Ungewissheit Luft. Jetzt zückt er sein Smartphone und filmt ins Publikum – der Moment ist einfach zu denkwürdig.
Am Vorabend haben Michael Volle und Gabriela Scherer Wagner und Strauss gesungen. Und einander dabei immer wieder berührt, einmal sogar geküsst. In ihrem Fall geht das in Ordnung – sie sind miteinander verheiratet. Hergekommen waren sie im vollgepackten Flieger aus Berlin. Dass sie danach vor einem zu vier Fünfteln leeren Haus auftreten müssen, finden sie nur schwer nachvollziehbar.
Intendant Uwe Eric Laufenberg, der sich mit dem Theatermann Frank Castorf und dessen Aufruf zur Rebellion ("Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss") solidarisiert hatte, trägt demonstrativ einen locker um die untere Gesichtshälfte gewundenen Schal. Für die ausgefallenen Maifestspiele seines Staatstheaters hat er ein mehrteiliges Ersatzprogramm auf die Beine gestellt. Es sind europaweit wohl die ersten Aufführungen vor Publikum im Saal seit Corona, sogar die New York Times berichtet.
Ist Wiesbaden die Blaupause für Oper und Theater unter Virusschutz-Bedingungen? Ein Eckpunkte-Papier der deutschen Kultusministerkonferenz für "Öffnungsstrategien" legt das nahe. Es geht darin, nach der inzwischen allgegenwärtigen Beteuerung der Wichtigkeit von Kunst und Kultur, vor allem um Hygiene, Abstände, Lüftung, Sicherheit. "Das ist für uns nichts wirklich Neues", sagt Markus Trabusch. Der Intendant des Mainfranken Theaters in Würzburg ist Mitglied der Expertenkommission, die Bayerns Kultusminister Bernd Sibler (CSU) in Sachen Corona berät.
Den Spielplan für die Saison 2020/21 - bereits vom Stadtrat abgesegnet und druckbereit - konnte Trabusch noch abfangen. Anders als Häuser, die damit früher dran waren, wie etwa Meiningen. Deren Spielzeithefte dürften weitgehend Makulatur sein, seit sich abzeichnet, dass Kultur im Saal auch nach der Sommerpause wenn, dann nur unter Auflagen möglich sein wird.
Die Option Open Air ist für Trabusch uninteressant: "Wir hätten am 9. Juli ohnehin aufgehört, weil wir aus dem Großen Haus raus mussten. Und im Oktober, wenn wir wieder anfangen wollen, ist Open Air nicht mehr das Thema." Das Mainfranken Theater arbeite deshalb an einem komplett anderen Spielplan für die Blaue Halle auf dem Gelände der Firma va-Q-tec, die während der Sanierung des Hauses als Ausweichquartier für die großen Produktionen fungiert. Im Juli will Trabusch einen neuen, "belastbaren" Spielplan vorstellen.
Wobei auch die Produktionen für die Blaue Halle so groß nicht werden können. Die Abstandsregel hat Folgen für Bühne wie Zuschauerraum. Weniger Plätze im Publikum, weniger Akteure auf der Bühne, kürzere Programme. Und komplett andere Titel. Trabusch: "Wir haben überlegt, was ist spielbar, was ist singbar?" Antwort: Stücke, die mit kleinen Ensembles funktionieren. Im Musiktheater also eher kein Wagner, sondern eher Barock. Im Tanz der Soloabend. "Berührung wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Wir planen für den Worst Case, also den schlimmstmöglichen Fall", sagt Trabusch, "auch wenn der sich täglich verschiebt. Aber nach oben hin sind wir flexibel."
Die am 26. Mai verkündete 50-Personen-Regel hat die Würzburger Planungen bis dahin nicht grundsätzlich über den Haufen geworfen. "Wir gehen davon aus, dass bis Oktober noch einige Zeit vergeht und hoffen auf leichte Lockerung", sagt Trabusch.
Während die Blaue Halle für den Betrieb unter Corona-Bedingungen hergerichtet wird, während Fragen zu Einlass, Ticketing, Programmheften (vermutlich wird es keine geben) geklärt werden, finden bereits wieder Schauspielproben statt, erzählt Trabusch. Eines sei für die kommende Spielzeit sicher: Die Einnahmen werden wesentlich geringer ausfallen. Es werde darum gehen, Kosten zurückzuführen. Und das werde vor allem die freiberuflichen Gastsolisten treffen.
In den Pessimismus, der sich in der Kulturszene in den vergangenen Wochen zu verfestigen drohte, will Markus Trabusch dennoch nicht einstimmen. "Wir wollen zeigen, dass es auch unter diesen Bedingungen funktionieren kann – eine Zeit lang. Was wäre die Alternative? Nichts machen? Wir haben die Leute da, sie sind unser Kapital. Also machen wir auch was mit ihnen."
Christian Federolf-Kreppel, Direktor des Theaters der Stadt Schweinfurt, hat nur sehr begrenzte Möglichkeiten, die Produktionen zu modifizieren, die sein Haus zeigt: Es sind allesamt Gastspiele. "Täglich rufen Häuser an und fragen, können wir nicht dieses oder jenes anders machen? Ich versuche, wenigstens die Termine des geplanten Spielplans zu halten." Die derzeit gängigen Alternativvorschläge – kurze, kleine Programme, mehrfach gespielt – könne er schlicht nicht umsetzen.
"Hast du einen hohen Abo-Stand, hast du verloren. Wir haben 6000 Abonnenten – was soll ich mit denen machen? Wie soll ich die unterbringen? Wenn ich Glück habe, darf ich 150 Leute reinsetzen. Das ist unterm Strich der Tod des Theaters. Wer will denn in solchen Sälen spielen?" Während die Lufthansa mit neun Milliarden Euro gerettet werde, entstehe im Kulturbereich ein Flurschaden, der irgendwann nicht mehr zu reparieren sein werde, befürchtet Federolf-Kreppel. "Es ist sowas von brandgefährlich, was da passiert."
Natürlich werde man sich an alle Auflagen halten, und natürlich werde man auch in Schweinfurt alternative Ideen entwickeln und umsetzen. Inzwischen aber sei ein über fünf Jahrzehnte lang stetiger Strom der Theaterbegeisterung in der Stadt zwangsweise abgerissen. Federolf-Kreppel: "Die Angst ist doch, irgendwann denken die Leute, sich anziehen, rausgehen ins Theater, das ist zu anstrengend. Und Netflix ist auch ganz schön. Abonnenten, die Sie jetzt verlieren, die bekommen Sie nie wieder."
In einem emotionalen Facebook-Post verweist Federolf-Kreppel auf Baden-Württemberg, wo ab 1. Juni 100 Personen in geschlossenen Räumen erlaubt seien. Und auf die Schweiz, die ab 6. Juni 300 Personen zulasse. Die bayerische 50-Personen-Regel sei keine Option, so der Schweinfurter Theater-Direktor: "Nicht nur ,die Hütte', sondern die gesamte Theaterlandschaft mit allen Beteiligten brennt längst lichterloh! Bitte lasst uns mit allen notwendigen Maßnahmen so spielen, dass es künstlerisch und wirtschaftlich Sinn macht. Ohne das Prickeln des ,Theatererlebnisses', das Künstler und Publikum verbindet, geht es ebenso wenig wie ohne eine Form von Wirtschaftlichkeit."