Blick auf eine Bühne. Das Orchester ist bereit. Da dreht sich der Dirigent um und spricht direkt in die heranzoomende Kamera: "Come closer – listen and feel!" Das ist die Hoffnung aller, die derzeit mangels Auftrittsmöglichkeiten ihre Kunst im Netz ausüben: Kommt näher, hört und fühlt! In diesem Fall ist es Jakub Hruša, Chefdirigent der Bamberger Philharmoniker, im Trailer zu einem Live-Stream.
Aber wie ist das mit dem Fühlen im Netz? Ein Jahr Pandemie, zwei Lockdowns – hat sich das Internet als Ausweichmöglichkeit erwiesen, möglicherweise gar als Ersatz? Interessanterweise beobachten viele Kulturschaffende – als Anbieter wie als Konsumenten – eine ähnliche Dynamik über die vergangenen zwölf Monate: Erster Schwung mit vielen Gratis-Angeboten, kurzes analoges Zwischenspiel, zweiter Lockdown mit Resignation. Aber auch mit einem neuen Trend: Kultur gegen Bezahlung und eine wachsende Bereitschaft beim Publikum, digitale Tickets zu kaufen.
Am Anfang ging es nicht darum, Geld zu verdienen, sondern sichtbar zu bleiben
Im ersten Lockdown sprossen die Online-Projekte nur so aus dem Boden, es wurde gestreamt, gepostet, upgeloadet, was das Zeug hielt. Es ging nicht darum, Geld zu verdienen, sondern sichtbar zu bleiben. Einen Augenblick schien es, als werde demnächst die Kultur der Welt in Gänze virtuell zur Verfügung stehen. Pop- und Klassikstars sangen und spielten im Wohnzimmer, es gab Corona-Video-Tagebücher, Lesungen, virtuelle Führungen. Und jeden Abend Gratisvorstellungen in HD aus den großen Theatern und Opern.
Im Frühsommer dann Stück für Stück die Öffnungen unter Auflagen. Die Theater eröffneten im Herbst die Saison – mit angepasstem Repertoire und immer in Erwartung neuer Einschränkungen. Und die kamen. Seit 1. November ruht der Kulturbetrieb wieder. Einsortiert als "Freizeiteinrichtungen", werden Clubs, Museen und Theater – wieder mal – erst nach den Baumärkten öffnen dürfen. Und es scheint, als gehe mit der Pandemie-Müdigkeit auch eine kreative Online-Müdigkeit einher.
Carolin No: Mit die ersten, die streamten – mit die ersten, die wieder aufhörten
Carolin und Andy Obieglo, die das erfolgreiche Popduo Carolin No bilden, hatten zu den ersten gehört, die aus ihrem Wohnzimmer streamten, und sie waren mit die ersten, die damit wieder aufhörten. Der erste Lockdown hatte eine Tournee mit 40 Konzerten vereitelt, und es war anfangs der Plan, jeden dieser Auftritte quasi zeitgleich live im Netz anzubieten. "Das war eine Art positiver Reflex", erzählt Obieglo. "Wir wollten was für uns tun, und die virtuellen Schulterklopfer, die wir bekommen haben, taten auch gut."
Aber ganz richtig fühlte sich das nicht an. Wie sich herausstellte, kosteten die Sofaauftritte einige Mühe: "Das schaute so leger, so gemütlich aus, erforderte aber jedes Mal zwei Tage Arbeit, von der Technik bis zum Organisieren der Kinderbetreuung", sagt Obieglo. Carolin No verabschiedeten sich und konzentrieren sich seither darauf, neues Material zu produzieren. "Mein Gefühl sagt mir, dass das unser Weg ist." Ein Album ist quasi fertig – es könnte passenderweise "Hausmusik" heißen, aber da sind sie sich noch nicht einig, erzählt Obieglo.
Inzwischen gibt es jede Menge Bezahl-Angebote im Netz
Global gesehen, gibt es inzwischen jede Menge Bezahl-Angebote im Netz. Beliebter Slogan: "Alle Plätze in der ersten Reihe." Während in der Region vielerorts die Netz-Aktivitäten zumindest stagnieren, haben die beiden Gerolzhöfer Kulturvereine Karussell und Kleines Stadttheater Ende Februar ein kleines Online-Kultur-Festival unter dem Titel "Kultur Lichtblicke" veranstaltet. Das Konzept laut Homepage: "Bei diesen kulturellen Lichtblicken werden nicht nur KünstlerInnen aus ihrem auferlegten Schatten-Dasein zurück in das Licht der Scheinwerfer treten, sondern mit den Auftritten gleichzeitig der Staub von den Orten geblasen, die derzeit niemand von innen sieht."
Vier Termine via Youtube und Zoom stellten die Gerolzhöfer auf die Beine – zweimal Kindertheater, zweimal Musik. Alle fanden an Orten statt, die derzeit ebenfalls geschlossen sind, in Geschäften oder in der Stadtbibliothek. Einzeltickets kosteten acht, die Familienkarte 20 Euro. Das Duo Café Sehnsucht mit Silvia Kirchhof und Achim Hofmann trat in einem Modehaus auf. Die beiden spielten das Programm "Kirchhof singt Hofmann", Eigenkompositionen im Geiste der 1920er und 1930er Jahre.
Es war eine interessante und strapaziöse Erfahrung nach fast einem Jahr Bühnenabstinenz, erzählen sie. Der Bildschirm mit den Köpfchen der rund 200 Zuschauerinnen und Zuschauer in Briefmarkengröße anstelle eines energiespendenden Publikums, die Abhängigkeit von der fragilen Internet-Technik, die Unmöglichkeit einzuschätzen, wie das draußen ankam – alles neu und verunsichernd. Aber für die Gäste daheim am Schirm war es fast so etwas wie ein Event, einige hatten sich extra in Schale geworfen und prosteten mit Sekt in die digitale Runde.
Das Netz als Notnagel: Ohne echte Begegnungen ist Kultur auf Dauer nicht denkbar
"Im Grunde müsste man für so ein Format extra proben", sagt Achim Hofmann. Silvia Kirchhof ergänzt: "Normalerweise kommt meine Coolness, sobald ich das erste Lied singe. Das war diesmal schwieriger. Man muss in diesem Rahmen schon sehr bei sich sein." Dennoch sind die beiden sehr froh, dass sie es gemacht haben. Endlich wieder ein Hauch Bühnenfeeling. Auch diesmal ging es nicht so sehr ums Geld, sondern um Perspektive. Das Netz werde nie den eigentlichen Zweck von Kultur ersetzen können, nämlich echte Begegnung, Diskussion, Nähe, Auseinandersetzung, sagt Hofmann. "Es ist einfach ein Notnagel."
Inzwischen fühlt sich der Lockdown wie Dauerzustand an, und die Kreativen, die noch nicht resigniert haben, richten sich auf professionellere Auftritte im Netz ein, belegen Webinare, schaffen Equipment an, beauftragen Profis. Deutlich zu sehen ist das bei den großen Museen, die einige Anstrengungen unternehmen, all die Ausstellungen, die niemand sehen kann, wenigstens digital sichtbar zu machen. Das ist dann meistens eher informativ als innovativ, aber immerhin.
Ein ausschnittartiges, nicht repräsentatives Video-Archiv einer höchst lebendigen Szene
Der Dachverband freier Würzburger Kulturträger macht aus der Not etwas, was sich tatsächlich als Tugend erweisen könnte: Aus dem Format der – abgesagten – "Kulturpunkte", einem Tag mit offenen Ateliers, Studios, Werkstätten, Proberäumen, wurde eine Serie von 50 Video-Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern fast aller Sparten aus der Region, nach und nach einzusehen auf Youtube. Untertitel: "Hausbesuche". "Wir dachten, dann gehen wir eben mit der Kamera dahin, wo die Kultur gemacht wird", sagt Ralf Duggen, Sprecher des Verbands.
Die rund 20-minütigen Gespräche, bewusst ohne Schnickschnack und aufwändige Schnitte, finden zwischen 100 und 500 Zuschauer und schaffen eine fast private Nähe zu den Interviewten. "Da soll auch mal ein Gedanke zu Ende gedacht werden können, ruhig mal eine Pause entstehen", sagt Duggen. Das Resultat ist ein ausschnittartiges, nicht repräsentatives Video-Archiv einer höchst lebendigen Szene, das über die Pandemie hinaus interessant bleiben dürfte.