Das Schlimmste sind die Nächte. Die Stunden, in denen sie nicht schlafen kann. Da drehen sich die Gedanken, da kommen die Bilder. Beate Meier (Name von der Redaktion geändert) greift sich an den Hals, die Hand krallt sich in das Seidentuch. "Er hat mich geschlagen und gewürgt", sagt sie leise. "Ich hatte Angst, dass ich sterben würde."
Beate Meier ist Anfang 60 und gelernte Krankenschwester. Mehr als 40 Jahre hat sie in ihrem Beruf gearbeitet. Ihre Kinder sind erwachsen, sie lebte mit ihrem Partner in einem Mehrfamilienhaus im Raum Würzburg. Sie seien glücklich gewesen, sagt sie.
Ein Streit am Abend eskaliert
Bis vor gut eineinhalb Jahren. Da habe ihr Partner seinen Job verloren. "Danach hat er sich verändert, sich mehr und mehr zurückgezogen." Während sie weiter täglich zur Arbeit ging, sei er zu Hause gesessen, habe keine Aufgabe mehr gehabt, sei unzufrieden geworden. Es habe Streit gegeben, Vorwürfe, immer wieder, immer öfter. Irgendwann hätten sie in verschiedenen Räumen geschlafen, sagt Beate Meier. "Trennen wollte ich mich trotzdem nicht."
Dann ein Tag im Februar 2020. Sie seien nachmittags zusammen einkaufen gegangen, abends habe sie gekocht. Sie habe sich wieder nach mehr Nähe gesehnt, sagt Beate Meier. Und danach, wieder ein Bett zu teilen. Ihr Partner habe alles abgeblockt. Sie habe das Zimmer, in dem er seit längerem schlief, abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Er sei wütend geworden, sie hätten sich angeschrien. Dann habe er zugeschlagen, schildert Meier. "Ich habe versucht mich zu wehren, aber gegen einen Mann mit 80 Kilo hatte ich keine Chance."
Als sie sich losreißen wollte, habe er sie an den Haaren gezogen und gewürgt. "Ich wollte aus der Wohnung raus. Er hat mich immer wieder zurück gezerrt." Irgendwann habe sie es in den Hausflur geschafft. "Ich habe laut um Hilfe geschrien, mehrmals." Ihre Stimme bricht ab. Sie atmet tief ein. "Aber keiner kam."
Die Nachbarn, bei denen sie schließlich geklingelt habe, hätten die Polizei gerufen. Beate Meier sagte aus und zeigte ihren Partner an. Die Beziehung habe sie beendet, berichtet die Krankenschwester. Er sei ausgezogen.
"Beate Meier hat genau richtig reagiert", sagt Dr. Elisabeth Jentschke vom Zonta Club Würzburg Electra, der sich auch gegen Gewalt an Frauen engagiert. Jentschke ist als Psychoonkologin am Comprehensive Cancer Center (CCC) Mainfranken tätig und lernte Beate Meier ein paar Monate nach jenem Abend im Februar kennen. Denn im Sommer erhielt Meier die Diagnose Krebs: "Ich dachte, jetzt ist wirklich alles vorbei", erinnert sie sich. An ihrer Seite sei niemand mehr gewesen, "an den man sich mal anlehnen und mit dem man reden kann".
Es sei wichtig gewesen, dass Beate Meier ihren Partner angezeigt habe, sagt Elisabeth Jentschke. Leider sei das die Ausnahme. Viele Opfer häuslicher Gewalt würden schweigen. "Das ist ein schambesetztes Thema, das spricht man nicht sofort aus." Frauen würde häufig sich selbst Schuld geben, falsches Verhalten bei sich suchen. Fatal, sagt die Psychologin: "Einem Menschen steht es nie zu, Gewalt auszuüben, auch nicht im Streit."
Auch bei Beate Meier seien die Grenzen überschritten worden. Die Gesellschaft dürfte in solchen Fällen nicht wegsehen, sagt Jentschke. Gerade in der Corona-Pandemie nicht: "In einer solchen Ausnahmesituation besteht natürlich die Gefahr, dass es vermehrt zu Gewalt kommt."
In Unterfranken verzeichnete die Polizei 1868 Fälle häuslicher Gewalt
Der Kriminalstatistik der Polizei zufolge hat sich bayernweit die Anzahl der registrierten Fälle häuslicher Gewalt im vergangenen Jahr jedoch kaum erhöht – auch nicht während des Lockdowns. Die Fallzahlen bewegten sich laut Polizeistatistik "auf dem nahezu identischen Niveau des Vorjahres". Das gilt auch für Unterfranken: Hier verzeichnete die Polizei für 2020 laut Sicherheitsbilanz 1868 Fälle häuslicher Gewalt – vier weniger als 2019. Und gerade in den Monaten des zweiten Lockdowns wurden weniger Anzeigen aufgenommen als im November und Dezember im Jahr zuvor.
Die Opferschutzorganisation Weißer Ring zeigt sich darüber nicht verwundert. Häusliche Gewalttaten würden sich nicht schnell in sichtbaren Zahlen niederschlagen, heißt es bei der Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Viele Opfer lebten jahrelang mit der Gewalt, bis sie sich Hilfe suchten. "Es gibt Studien, nach denen eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau sieben Anläufe benötigt, sich aus einer solchen Beziehung zu befreien", so ein Sprecher.so
Bundesweit habe es beim Weißen Ring 2020 deutlich mehr Anfragen bei der Online-Beratung und beim Opfer-Telefon gegeben. Das könne mit der Pandemie zu tun haben. Allerdings sei der Trend schon länger erkennbar.
Häusliche Gewalt bleibt oft in den eigenen vier Wänden
Der Weiße Ring hält an seiner Warnung fest, dass das Risiko von häuslicher Gewalt mit den Corona-Einschränkungen merklich gestiegen sei: "Wir machen uns die allergrößten Sorgen", sagt der Bundesvorsitzende Jörg Ziercke. Und unabhängig von der Pandemie geht die Organisation von einer hohen Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt aus. Betroffen seien auch Männer, aber mehr als 80 Prozent der Opfer seien weiblich. Allenfalls jede fünfte Tat werde angezeigt, viele Fälle blieben quasi in den eigenen vier Wänden.
Beispielsweise würden nur etwa 20 Prozent der Betroffenen bestehende Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen nutzen, sagt Petra Müller-März mit Blick auf Zahlen des deutschlandweiten "Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen". Als Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Würzburg leitet Müller-März den interkommunalen Runden Tisch Häusliche Gewalt, der Hilfsangebote in der Region vernetzt.
Sie rechnet damit, dass die Corona-Krise die Situation verschärft. Soziale Kontakte seien durch Ausgangsbeschränkungen erschwert worden – und damit auch das Entkommen aus der häuslichen Situation. So gab es laut Müller-März bei den beiden Frauenhäusern in Würzburg im vergangenen Jahr zwar ähnlich viele Anfragen wie in den Jahren zuvor. Bei der Fachberatungsstelle für Gewaltopfer des Würzburger Vereins Wildwasser, bei der Frauenberatungsstelle im Sozialdienst katholischer Frauen und bei den Erziehungsberatungsstellen seien jedoch mehr Fälle registriert worden.
Damit spiegelt die Region das bayernweite Bild. Erste Zahlen des bayerischen Sozialministeriums zeigen, dass 2020 in den meisten Frauenhäusern in Bayern weniger Frauen als im Vorjahr aufgenommen wurden. Gleichzeitig suchten bei vielen Beratungsstellen mehr Frauen Rat und Hilfe. "Gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder müssen auch weiterhin und gerade jetzt zuverlässig unsere Hilfe erhalten", sagt Sozialministerin Carolina Trautner (CSU). "Trotz möglicher Ausgangsbeschränkungen kann natürlich die eigene Wohnung verlassen werden, um in Krisensituationen Hilfsangebote aufzusuchen."
Der Würzburger Verein Wildwasser zählt deutlich mehr Hilferufe
Hilfe wie vom Würzburger Verein Wildwasser. Um knapp ein Drittel sei 2020 der Hilfebedarf wegen häuslicher Gewalt an Frauen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, sagt die Sozialpädagogin Katharina Amon. Bei Wildwasser gehe man davon aus, dass auch die Pandemie Ursache ist. Denn die Gewalt zuhause, so die Befürchtung, könnte in der Krise schneller eskaliert und heftiger ausgefallen sein.
Gründe dafür sind aus Amons Sicht Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Schul- und Kita-Schließungen sowie Kurzarbeit und Homeoffice. All das führe zur Isolation von Familien und Paaren. Verschärft werde das "Aufeinander-Hocken" durch den Wegfall der sozialen und psychosozialen Netzwerke: So könne das Umfeld nicht eingreifen, wenn es in Familien zu Gewalt komme.
Tatsächlich könne häusliche Gewalt "überall passieren, in Familien aller sozialen Schichten", sagt Elisabeth Jentschke vom Zonta Club Würzburg Electra. "Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt." Das sei keine Altersfrage - und allzu oft verschwiegener Alltag.
Beate Meier fand den Mut, darüber zu sprechen. Erst mit der Polizei, dann mit ihren Geschwistern. Später auch mit ihren Kindern, mit Freunden. Das mache es leichter, sagt sie. Geblieben seien die Unsicherheit und Enttäuschung.
Ihr ehemaliger Partner sei nach ihrer Krebserkrankung irgendwann wieder auf sie zugekommen und habe ihr Hilfe angeboten. Sie habe angenommen, heute könnten sie wieder "normal miteinander sprechen". Nur nicht über den Februarabend. Anfang Mai wird ihr Fall vor dem Amtsgericht Würzburg verhandelt werden.