
Sie dürfte bis dahin die größte politische Demonstration in der Nachkriegsgeschichte Schweinfurts gewesen sein: Am 19. April 1975, also vor 50 Jahren, wandten sich mehr als 10.000 Menschen gegen den Bau des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld. "Eine machtvolle Demonstration des Bevölkerungswillens" nannte sie der Berichterstatter des Schweinfurter Tagblatts.
Als die Massen an jenem sonnigen Samstagvormittag vom Messeplatz durch die Innenstadt zum Rathaus zogen, war der Bau der Kühltürme schon seit drei Monaten im Gange. Die Kundgebung sollte das laufende Verfahren auf Baustopp vor dem Verwaltungsgericht unterstützen. Zwei Wochen vor Urteilsfindung sei dies "die letzte Möglichkeit rechtsstaatlichen Handelns seitens der Bürgerschaft", wie Rechtsanwalt German Cramer als Sprecher der "Bürgeraktion Umwelt- und Lebensschutz" (heute BA-BI) sagte. Bekanntermaßen kam der Baustopp nicht; das AKW wurde vollendet, ging 1982 in Betrieb, wurde 2015 abgeschaltet. Seit 2018 läuft der Rückbau, der bis etwa 2035 terminiert ist.
Fast die gesamte Bürgerschaft beteiligte sich am Protest
Was damals nicht für alle umstrittenen AKW-Standorte galt: Der Protest in Schweinfurt wurde getragen von einem breiten Bündnis, fast aus der gesamten Bürgerschaft. Das bestätigt auch der Teilnehmer Ronald Dörfer, der damals gewerkschaftlich und bei den Jusos aktiv war. In der Demo marschierten auch "Bauern aus den umliegenden Dörfern, Langhaarige und Schlipsträger" mit, erinnert sich Rolf Roßteuscher, Sohn des damaligen Schwebheimer SPD-Bürgermeisters Fritz Roßteuscher. Er und ein Freund hatten zum Protest ein Schild mit der Aufschrift "Kindermörder" gemalt (im Film von Hans-Jürgen Runge zu sehen bei Minute 1:30). Dörfer (im Film bei Minute 7:32, hält das Juso-Transparent) hatte es geschafft, auch seine Mutter und Schwester auf die Straße zu bringen (im Film bei Minute 7:47).
An der Kundgebung beteiligte sich auch Hans-Jürgen Runge, der seine Schmalfilmkamera im Gepäck hatte und die Ereignisse filmte. Im Vorfeld der Sprengung der AKW-Kühltürme 2024 erinnerte er sich an den Streifen und stellte ihn als einzigartiges Zeitdokument der Redaktion zur Verfügung, die den Film digitalisieren ließ und auf dem Kanal Youtube für alle bereitgestellt hat.
Hier der digitalisierte Film von der Demonstration am 19. April 1975. Hinweis: Der Film ist ohne Ton. Autor: Hans-Jürgen Runge.
An der Spitze der Kritikerinnen und Kritiker stand FDP-Stadtrat Karl Riederer. Bei der Kundgebung sprachen unter anderem Oberbürgermeister Kurt Petzold (SPD), der Haßberge-Landrat Walter Keller (CSU) und Bergrheinfelds Bürgermeister Karl Hussy (CSU). Auch beide große Kirchen nahmen mit offiziellen Vertretern an der Kundgebung teil; der evangelische Kirchenbezirk unterbrach dafür sogar seine laufende Synode. Der Widerstand vor Ort hatte im Sommer des Olympia-Jahres 1972 begonnen, als die Pläne schon weit gediehen waren und Betreiber Bayernwerk die Grundstücke gekauft hatte; im Dezember 1972 stimmte der Kreistag Schweinfurt für den Bau.

Ein SPD-Oberbürgermeister und ein FDP-Stadtrat gingen vorneweg
Ronald Dörfer kann sich an eine erste Demonstration 1974 erinnern sowie an einen Protest in Ottendorf, bei dem die Demonstranten den bayerischen Umweltminister Max Streibl (CSU) konfrontierten. Auch 1979 hat es demnach nochmals eine große Kundgebung in Schweinfurt gegeben.
Vor allem fühlten sich die Gegnerinnen und Gegner von der Staatsregierung und vom Betreiber Bayernwerk (heute ist die Eon-Tochter Preussen-Elektra Anlagenbetreiber) bevormundet und links liegen gelassen, wo doch die Bevölkerung vor Ort die Folgen des AKW-Baus tragen müsse (Damals war noch gar nicht vorstellbar, dass heute der hochradioaktive Abfall aus den verbrauchten Brennstoffen vor Ort gelagert wird). OB Petzold zitierte am 19. April 1975 den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel (FDP), der zu einem Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung über mögliche AKW-Standorte aufgerufen hatte. Der habe in Grafenrheinfeld und Umgebung nicht stattgefunden, kritisierte Petzold. Mit einem Pfeifkonzert quittierten die Protestierenden denn auch, dass Umweltminister Streibl sein Kommen kurzfristig per Telegramm absagte.

Demonstrant Ronald Dörfer: Woanders war Atomkraft kein Thema
Insgesamt zeigte sich der damals 21 Jahre alte und erst volljährig gewordene Ronald Dörfer beeindruckt von der Resonanz: "Es war großartig, wie viele Leute da waren." Zumal es anderswo in breiten Bevölkerungsschichten gar kein Bewusstsein gegeben habe für das Thema Atomkraft. Nur an den potenziellen und realen Standorten. Dass die Proteste so groß und breit gefächert waren, sieht Dörfer auch in der Haltung der Stadt Schweinfurt begründet, die sich offiziell gegen das AKW positioniert hatte und juristisch dagegen vorgegangen war.
Schauplatz war am 19. April 1975 nicht nur die Schweinfurter Innenstadt, sondern auch die Baustelle in Grafenrheinfeld, die von der Polizei abgeriegelt worden war. Hubschrauber kreisten über der Region. Der bayerischen Staatsregierung sagte man damals nach, dass sie die Demonstration als Ablenkungsmanöver betrachtet habe, damit "linke Gruppen" die Baustelle besetzen könnten.
Das dokumentiert plastisch die damals angespannte politische Atmosphäre. Wenige Wochen zuvor hatten Linksterroristen der "Bewegung 2. Juni" mit der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz fünf inhaftierte Terroristen freigepresst. Fünf Tage nach der Schweinfurter Demonstration kam es zum blutigen Überfall von RAF-Terroristen auf die deutsche Botschaft in Stockholm mit vier Toten.
Gewagtes Flugmanöver: Rolf Roßteuscher hat dem Piloten in die Augen schauen können
Laut dem Tagblatt-Bericht vom 21. April 1975 tauchten in Grafenrheinfeld aber an jenem Demo-Samstag nur wenige Menschen auf. Aggressiv oder gewalttätig war keiner. Unter den Schaulustigen befand sich auch die Familie Roßteuscher aus Schwebheim mit ihren Kindern. Rolf Roßteuscher erinnert sich detailliert an eine ganz bestimmte Szene: Als die Besatzung eines Helikopters das Grüppchen auf dem Acker erblickte, steuerte sie das Fluggerät nach unten, um die Personen in Augenschein zu nehmen. "So nah, dass die Polizisten im Hubschrauber und wir uns in die Augen sehen konnten", so Rolf Roßteuscher. Als 13-Jähriger fand er das damals aufregend, sein Vater nicht. Er sei massiv erschüttert gewesen.

Rund um den Polizeieinsatz in Grafenrheinfeld kam es zu einem politischen Nachspiel, das die Bürgeraktion öffentlich mit großer verbaler Härte geführt hat. 15 Hundertschaften seien vor Ort gewesen, ausgerüstet mit Maschinenpistolen. "Hetzhunde" und "Stacheldrahtverhaue" seien zum Einsatz gekommen. Auch der Tiefflug des Polizeihubschraubers zur Roßteuscher-Familie spielte eine große Rolle.
In den Augen der Bürgeraktion war der Einsatz, den die damals Handelnden in dieser Form wohl zum ersten Mal gesehen und als äußerst bedrohlich wahrgenommen haben dürften, die Vorbereitung auf "bürgerkriegsähnliche Zustände". Sie forderte den Rücktritt des zuständigen Innenministers Bruno Merk (CSU), seinerseits auch Aufsichtsratsmitglied des Bayernwerks. Merk rechtfertigte sich damit, dass der Bau nach geltendem Recht ablaufe und deswegen die Polizei das Gelände "gegen rechtswidrige und strafbare Handlungen von außen" zu schützen hatte. Die Präsenz von "verhältnismäßig starken Polizeikräften" hätte unter anderem die Gewähr geboten, dass Angriffe gar nicht begonnen und eine Konfrontation von vorneherein vermieden worden seien.

Nach Polizeieinsatz in Grafenrheinfeld wurden die Abgeordneten aktiv
Auch in den Leserbriefspalten des Schweinfurter Tagblatts spiegelte sich die Kritik am Vorgehen der bayerischen Regierung in den folgenden Tagen wider. Der Gemeinderat von Schonungen, die Gemeindeverwaltung Schwebheim sowie der Stadtjugendring schlossen sich ihr an. Währenddessen trugen die Abgeordneten Oskar Soldmann (SPD, Landtag) und Max Schulze-Vorberg (CSU, Bundestag) den Protest in die Parlamente. Auch der CSU-Landtagsabgeordnete Ernst Lauerbach richtete kritische Fragen an die Staatsregierung.
In einer Mitteilung im Mai gibt der Bayernwerk-Aufsichtsrat bekannt, dass man sich mit den Sorgen der Bevölkerung "eingehend befaßt" habe, am Bau aber festhalte, zumal durch das AKW niemand gefährdet werde. Wirtschaftsminister Anton Jaumann (CSU) wies in einer Antwort an das evangelische Dekanat auf "immer deutlichere Drohungen" von Atomkraftgegnern hin, die einen Baustopp mit Gewalt herbeiführen wollten. Der Brief gibt auch die Haltung der damaligen Volksvertreter wider: Bürgergruppen könnten dem Staat nicht vorschreiben, wie er zu handeln habe. Dekan Johann Strauß wehrte sich und forderte Jaumann auf, die Motive der beunruhigten Bevölkerung "nicht als anarchisch zu qualifizieren". Sie sei mündiger, als es Jaumann in seinem Schreiben anzunehmen scheine.

Nach und nach ebbte der Protest ab, verschwand aber nie
Immerhin: Am 12. Mai 1975 empfing die Staatsregierung in München eine große Delegation aus Schweinfurt, unter anderem mit OB Petzold, Landrat Georg Burghard (CSU) und Bürgeraktionssprecher Riederer. Zu einer Annäherung kam man nicht. Drei Tage zuvor hatte das Verwaltungsgericht Würzburg die Anträge zum Baustopp abgelehnt. Damit ebbte auch der Protest in seiner bisherigen Dimension ab, endete aber nie ganz; ebenso versandeten die parlamentarischen Initiativen. Das Bayernwerk bot inzwischen Baustellen-Besichtigungen für die Bevölkerung an.
Fast 50 Jahre später sahen sich einige der Demonstranten von damals wieder vereint: bei der Sprengung der Kühltürme am 16. August 2024. Auch der gebürtige Grettstädter Ronald Dörfer ist aus seiner Wahlheimat in Baden-Württemberg extra angereist, um das Ereignis mit eigenen Augen zu verfolgen: "Ich bin ja schließlich Teil der Geschichte."
Deren Ergebnisse werden durch gesteuerte Gegengutachten und unfähige Politiker zerrissen und zerredet.
Es wäre auch mal interessant zu lesen, wieviel Geld die Betreiber an die Region gezahlt und gespendet haben.