Die Not der ukrainischen Menschen, die durch Russlands Angriffskrieg aus ihrer Heimat fliehen müssen und unter dieser Entwurzelung leiden, zeigt, welch starke Bedeutung die Heimat hat. Was es genau mit dem Begriff "Heimat" auf sich hat, ob es nur eine Heimat gibt und ob die Region Rhön-Grabfeld als Landkreis eine solche Heimat sein kann, erklärte uns im Gespräch Unterfrankens oberster Heimatpfleger, der gebürtige Obereßfelder Professor Klaus Reder.
Klaus Reder: Meine zentrale Aufgabe ist es, Kultur in der Heimat zu ermöglichen und eigene Akzente zu setzen. Die Heimatpflege beinhaltet zum einen das Bewahrende, aber auch das Dynamische. Wir fördern also beispielsweise sowohl Volks- als auch Popularmusik.
Reder: Es gibt da unterschiedliche Dimensionen. Zum einen die juristische des Rechts auf Heimat. Dann gibt es den Heimatbegriff aus der Romantik, der geprägt wurde, um überhaupt einmal eine deutsche Identität zu schaffen. Und dann gibt es die faktische Kraft der Heimat als Ort, wo man gebraucht wird und wo man sich einbringen kann.
Reder: Es gab in Franken den Brauch, sich als Nachbar annehmen zu lassen. An einem bestimmten Tag im Jahr – zum Beispiel am Andreastag – war eine Bürgerversammlung und da haben sich die Neubürger als Nachbar annehmen lassen – mit Rechten und Pflichten. Die Rechte waren etwa Holz holen zu dürfen oder beim Brauen mitzumachen. Pflichten wiederum, die Straße zu kehren, den Bach sauberzumachen oder bei Fronleichnam den Himmel zu tragen. Da ging es also nicht um sentimentale Dinge wie Gerüche und Lieder, sondern einfach: Ich bringe mich jetzt hier ein in meine neue Heimat.
Reder: Sicherlich nicht. Es gibt viele Heimaten. Das zeigt sich auch in der Geschichte der Heimatpflege: Meine Amtsvorgänger waren allesamt Heimatvertriebene, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ganz stark darüber nachgedacht haben, was Heimat und der Verlust an Heimat bedeuten.
Reder: Wir haben 34 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen – die Hälfte davon Dialyse-Patienten und Krebskranke. Von denen, die ich gesprochen habe, wollen 80 Prozent wieder zurück in ihre Heimat – auch wenn die zerstört ist und sie die medizinische Versorgung hier als viel besser beschreiben. Aber sie haben dort natürlich alle Verwandte und Söhne, die dort kämpfen müssen. Es glauben auch alle an den Sieg der Ukraine und dass dort alles wieder gut wird.
Reder: Jeder kann eine neue Heimat finden. Wenn er die nicht findet, dann ist er entwurzelt. Heimat kann aber vieles sein: Eine Wohngemeinschaft, der Nachbar, ein Verein, eine dörfliche Gemeinschaft – das kann vielleicht auch die Redaktion der Main-Post sein (lacht). Für meinen Schwiegervater etwa war Heimat die Bundesanstalt für Arbeit, die er in Nürnberg zusammen mit seinen Kollegen aufgebaut hat. Die haben dort auch privat alles zusammen gemacht.
Reder: Das gibt es schon, das hängt mit den Biographien der Menschen zusammen: Ich habe in dem Dorf Jugendarbeit gemacht, ich war in der Schule, das sind einfach Dinge, die verbinden. Und noch was anderes: Alle reden sich mit "Du" an auf dem Dorf, auch die Kinder und Enkel derer, die ich noch gekannt habe. Dementsprechend sind auch die Erwartungen: Du bist doch einer von uns, kümmere dich mal darum.
Reder: Das war völlig problemlos. Im Gegensatz zu den Ukrainern konnte ich ja so oft wie ich wollte wieder zurückfahren. Das war ja überhaupt kein Problem, meine Eltern waren da, meine Geschwister waren da und durch die neuen sozialen Medien ist man ja auch vernetzt. Ich habe Dinge vermisst – zum Beispiel habe ich in Obereßfeld nie mein Auto zugeschlossen. Ich bin aber auch nie im Streit von dort geschieden, sondern wurde immer wieder dort gebraucht. Von daher sehe ich das auch weiterhin als ein Stück meiner Heimat an.
Reder: Das ist schwierig. Das sind zum einen zwei Regionen – die Rhön und das Grabfeld – und dann sind das ja riesige Ausdehnungen. Ich weiß nicht, ob jeder aus Obereßfeld jemanden aus Rüdenschwinden kennt. Aber da spielen natürlich auch die individuellen Biographien eine Rolle. Da heiratet einer in die Rhön, spielt dort in der Musikkapelle und die tritt halt in Obereßfeld auf.
Verbindungen gibt es auch durch Sport, Eheschließungen und Beruf. Dadurch ist eine Diffusion da, die natürlich wesentlich größer ist, als früher. Aber ich denke, es würde niemand sagen: Ich bin Rhön-Grabfelder, sondern ich bin Rhöner oder Grabfelder. Aber das ist ohne den Hintergedanken, dass das eine besser oder schlechter ist.
Reder: Bräuche sind ja überall ähnlich, aber man hat natürlich solche Alleinstellungsmerkmale auch touristisch herausgearbeitet. Etwa die Rhöner Maskenfasnacht. Ein anderes Alleinstellungsmerkmal ist mit den hochklassigen Mannschaften aus Großbardorf und Aubstadt natürlich auch der Fußball.
Reder: Nein. Heile Welt war das nie. Heimat ist jeden Tag ein Stück Kampf, dass die Welt ein Stück weit in Ordnung ist.
Reder: Ja, sie muss auf jeden Fall gestaltet werden. Auch Bräuche, Sitten und Kultur sind nichts Automatisches. Das muss konsequent gepflegt werden, weil sonst vergeht das. Das ist natürlich nicht nur Stress, sondern macht auch Freude, aber das muss gemacht werden.
Reder: Wenn ich sehe, was Rentnerinnen und Rentner im Rahmen der Wettbewerbe "Unser Dorf soll schöner werden" oder "Gütesiegel Heimat" auf die Beine stellen, das ist Wahnsinn. Wie sich da um Denkmäler, Häuser, Museen und Vereine gekümmert wird – wer auf dem Land lebt, engagiert sich. Zudem entscheiden sich auch junge Menschen jetzt bewusster für das Leben auf dem Land und lassen sich dabei weniger von ihrem Arbeitsplatz steuern. Das Land hat Chancen, aber man muss natürlich auch offen dafür sein.
Reder: Das war eher eine Sitte: Dass man nach dem Schlachten den Alleinstehenden Gretelsuppe und Blut- oder Leberwurst gebracht hat. Uns Kindern wurde damit beigebracht, an alle zu denken. Nicht nur an die, denen es gut geht, sondern auch die, denen es nicht so gut geht. Rückblickend ist das für mich auch ein Stück weit Antrieb gewesen. Immer so zu denken: Es gibt immer jemanden, dem es schlechter geht als dir und du hast Verantwortung für die anderen.