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Niederlauer
Rhön-Grabfeld: Warum ich stolz bin, ein Dorfkind zu sein
Unsere Autorin wirft einen persönlichen Blick auf das Leben im Örtchen Niederlauer. Sie erzählt von Dorfnamen, rauschenden Festen und einer besonderen Gemeinschaft.
Von der idyllischen Streuobstwiese in der 'Grünen Au' aus hat man einen guten Blick auf den Ort Niederlauer (Lkr. Rhön-Grabfeld). Am Hügel auf der Wiese ist unsere Autorin Kristina Kunzmann als Kind im Winter Schlitten gefahren. 
Foto: Daniel Peter | Von der idyllischen Streuobstwiese in der "Grünen Au" aus hat man einen guten Blick auf den Ort Niederlauer (Lkr. Rhön-Grabfeld).
Kristina Kunzmann
 |  aktualisiert: 16.02.2024 20:35 Uhr

"Ja, den kenn' ich. Der Vodder von dem hat doch mal mit mir Fußball gespielt. Und die Mudder war mit mir in der Klasse. Ach ja - und seine Schwester ist mit meiner Tochter in den Kindergarten gegangen." Kommen Ihnen solche Sätze bekannt vor? Dann sind Sie vielleicht auch ein Dorfkind. Oder eines, das in einem eher kleinen Städtchen aufgewachsen ist. Gerade jetzt in der Corona-Zeit, wo Reisen in ferne Länder, ausgelassene Partys und exotische Abenteuer kaum möglich sind, scheint es, als sehnen sich viele Menschen nach einem gemütlichen Leben auf dem Land statt in einer großen, anonymen Stadt. Doch was macht den Alltag auf dem Dorf eigentlich so besonders? 

Ich möchte im Lebensmittelladen in Burglauer (Lkr. Rhön-Grabfeld), dem Nachbarort, aus dem mein Vater stammt und in dem ein Teil meiner Verwandtschaft lebt, nur schnell eine Kleinigkeit einkaufen. Begrüßt werde ich mit: "Und, was macht die Oma Hilde? Ihr bestelltes Brot kannst du gleich mitnehmen" oder "Ach, grüß dich. Du khörscht doch zum Reinhold/Burkhard/Lenhard" - je nachdem, ob Vater, Onkel oder Opa gemeint sind. Wenn ich Glück habe, höre ich solche Sätze von Leuten, die ich schon mal gesehen habe. Manchmal kenne ich sie aber auch nicht. Denn weil ich meinen Burgläurer Verwandten ähnlich sehe, werde ich von vielen dort sofort erkannt. Kann ich die Person aber selbst nicht direkt zuordnen, antworte ich etwas Neutrales und lasse mir nicht anmerken, dass ich keine Ahnung habe, wer da vor mir steht.

Den Bekannten in ihren Autos kann man von Weitem winken

Das Einkaufen in meinem Wohnort Niederlauer ist auch so eine Sache. Der Bäcker liegt nur ein "Gässle" von unserem Haus entfernt. Schon als Kind war es meine Aufgabe, dort samstags das Brot abzuholen. Damals musste meine Mutter noch vorher anrufen, damit die Mitarbeiter für mich die schwere Holz-Eingangstür aufmachten. Heute kann ich sie alleine öffnen. Manches ist aber noch immer so wie früher. Was meine Eltern dort bestellt haben, bekomme ich so. Namen sagen? Unnötig! "Ich wollt' das Brot abholen" reicht. Dann kriege ich das Backwerk mit dem Hinweis "Ist schon bezahlt" in die Hand gedrückt. Und das nicht nur, wenn meine Tante, die dort arbeitet, gerade Dienst hat.

Die Natur und die besondere Gemeinschaft der Menschen untereinander - diese Dinge sind es, die das Leben als Dorfkind für Kristina Kunzmann so besonders machen.
Foto: Daniel Peter | Die Natur und die besondere Gemeinschaft der Menschen untereinander - diese Dinge sind es, die das Leben als Dorfkind für Kristina Kunzmann so besonders machen.

Auf dem Rückweg unterhalte ich mich oft noch mit den Nachbarn hinter ihrem Haus. Oder winke dem Niederläurer Altbürgermeister, der gegenüber der Bäckerei mit seiner Frau im Kleingarten arbeitet. Wenn ich durch die Niederläurer Straßen laufe, erkenne ich die Autos von Bekannten an ihrer typischen Farbe oder Marke oft schon aus der Ferne. "Ach, das kann nur der Manni sein!" Dann nehme ich schon mal rechtzeitig das Brot in die linke Hand. Die rechte muss schließlich zum Winken frei bleiben. Überhaupt grüße ich als Dorfkind praktisch jeden, der mir auf der Straße begegnet. Wenn mir das aus Versehen in einer Stadt passiert, ernte ich schon mal komische Blicke.

Wer braucht Nachnamen, wenn es Dorfnamen gibt?

Auswärtige aus Nachbarorten können die Dorfkinder oft schon anhand des Nachnamens einer Gemeinde zuordnen. Denn in jedem Ort gibt es typische Namen, die dort besonders häufig vorkommen. In Niederlauer zum Beispiel Knaier, Volkmuth oder Katzenberger. Auch meine Uroma mütterlicherseits war eine geborene Katzenberger. Ob einem die richtigen Namen der Bewohner aber immer direkt einfallen, ist nicht garantiert. Denn im Dorf ist es ja so, dass gefühlt jeder Zweite irgendeinen Spitznamen hat. Problematisch kann das dann werden, wenn man - wie ich - Post für die Gemeinde austrägt. Da passiert es mir schon mal, dass ich mit einem Brief dastehe und den Empfänger nicht gleich zuordnen kann, weil ich nur seinen Dorfnamen "Lubber", "Langer" oder "Pressi" im Kopf habe.

Überhaupt ist im Dorf, wenn nicht gerade Pandemie ist, immer etwas los. Wer braucht schon Clubs, wenn es Vereinsfeste gibt? Zum Feiern trifft sich der ganze Ort zum Beispiel am Sportplatz, Brauhaus oder am Platz beim "Dicken Turm", einem Aussichtsturm etwas außerhalb des Ortes. Dort genieße ich eine Bratwurst, ein Steak oder ein Brot mit Gerupftem. Das Essen wird dabei von Kriemhild - natürlich - Knaier, der Wirtin des Niederläurer Gasthauses "Goldener Stern", oder von Vereinsmitgliedern zubereitet. Ich kaufe mir dann gerne eine Limo, andere lassen sich ein Bier schmecken, und wir freuen uns, Bekannte zu sehen. Bei der Limo ist die entscheidende Frage natürlich: Gelb oder weiß? Der bunte, dünne Strohhalm, der muss freilich in der Flasche stecken. Die Blasmusik-Klänge des Niederläurer Musikvereins oder eingeladene Bands sorgen beim Fest für Stimmung.

Es gibt immer etwas zu feiern

Zu feiern gibt es außerhalb der Corona-Zeit sowieso immer irgendwas. Maibaumaufstellung, Sonnwendfeuer oder Keltersaison, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich bin Mitglied im SV "Pfeil" Niederlauer und dort als zweite Kassierin in der erweiterten Vorstandschaft aktiv. Oft helfe ich deshalb bei Festen auch im Getränkeausschank, beim Essensverkauf oder beim Kassieren mit, statt nur Besucherin zu sein.

Kristina Kunzmann entspannt zu Hause gerne in der Hängematte und lauscht den Vögeln.
Foto: Daniel Peter | Kristina Kunzmann entspannt zu Hause gerne in der Hängematte und lauscht den Vögeln.

Ich mache das nicht, weil ich dafür eine Gegenleistung oder gar Geld erwarte, sondern einfach, weil es mir ein gutes Gefühl gibt und Spaß macht. Vor allem wegen der Gemeinschaft mit den anderen Helfern, von denen ich viele schon lange kenne, mit denen ich mich gut verstehe und mit denen das Plaudern über das Neueste im Dorf schön ist. Da erledigt sich die Arbeit an der Kasse beim Makrelen-Verkauf oder im Grillhäuschen doch fast von alleine.

Dorfbrunnen und Schlittenhang als schönste Spielplätze

Als ich ein Kind war, diente der Brunnen direkt vor unserem Haus im Sommer als schönster Spielplatz. Eine meiner Freundinnen hielt mit dem Finger die Ausflussöffnung zu, eine andere pumpte. Und zwar so lange, bis das Wasser zu allen Seiten herausspritzte und alle nass wurden. Ein weiteres Highlight war der Hang an der Kapelle in der "Grünen Au" etwas außerhalb vom Ort, der sich hervorragend zum Schlittenfahren eignete. Im Winter herrschte dort immer viel Betrieb.

Das Schöne am Dorfleben ist für mich auch, dass ich von unserem Grundstück mit Garten und Hof aus nur wenige Sekunden laufen muss, um sofort noch mehr Grün und Stille genießen zu können. Es gibt am Fluss Lauer sogar einen extra hergerichteten Strand mit Insel, viel Platz und frischer Luft. Wenn ich meine Ruhe haben will, lege ich mich oft auch im Garten daheim in die Hängematte und lausche den Vögeln.

Der Berliner Künstler Herbert 'Jimmy' Fell stammt aus Niederlauer. An verschiedenen Stellen im Ort, wie hier am Platz beim 'Dicken Turm', hat er seine künstlerischen Spuren hinterlassen.
Foto: Daniel Peter | Der Berliner Künstler Herbert "Jimmy" Fell stammt aus Niederlauer. An verschiedenen Stellen im Ort, wie hier am Platz beim "Dicken Turm", hat er seine künstlerischen Spuren hinterlassen.

Während meines Studiums in Ravensburg hatte ich häufig Mühe zu beschreiben, woher ich eigentlich genau komme. "Kennst du Bad Neustadt?" "Nein." Gut in Erinnerung habe ich auch den verwirrten Blick eines Kommilitonen aus dem Schwarzwald: "Neustadt? Wohnt da nicht die Bibi Blocksberg?" Mit Glück fand ich jemanden, dem Schweinfurt etwas sagte. Aber spätestens Würzburg war den meisten dann doch ein Begriff.

Wir Dorfkinder helfen uns gegenseitig

Auf dem Dorf helfen wir uns gegenseitig. Egal ob beim Autokauf ("Ich glaub', in dem Autohaus kenn' ich jemanden, den frag' ich mal", sagte mein Vater, als ein neuer Wagen für mich fällig war) oder bei kleinen Reparaturen zu Hause. Man kennt für jedes Gewerk jemanden aus dem eigenen oder einem Nachbarort, der bei solchen Dingen gerne hilft.

Als ich noch kein eigenes Auto hatte, brauchte ich mich nur an die Bushaltestelle zu stellen. Es dauerte meistens nur Minuten, bis ein Bekannter anhielt: "Soll ich dich mitnehmen in die Stadt?" So ist das eben auf dem Dorf. Ich kenne die Leute, viele schon mein Leben lang. Wir helfen uns gegenseitig. Weil mein "Vodder" eben schon mit dem "Lubber" Fußball gespielt hat. Oder die Schwester von der Lisa mit meiner eigenen Schwester im Kindergarten war. Und deswegen bin ich froh und stolz, ein Dorfkind zu sein.

Die Autorin Kristina Kunzmann stellt sich vor

Ich wurde 1995 geboren und bin in Niederlauer bei Bad Neustadt aufgewachsen. Aus Niederlauer stammt meine Mutter, mein Vater aus dem Nachbarort Burglauer. Wir wohnen im Fachwerk-Elternhaus meiner Mutter, das bereits vor 1900 gebaut wurde, in der Niederläurer Hauptstraße.
Während meines Studiums lebte ich zeitweise in Ravensburg, einer Stadt mit etwa 50 000 Einwohnern in der Nähe des Bodensees. Manchmal fehlten mir dort das Grün und die Stille meiner Rhöner Heimat.
In Niederlauer bin ich gut vernetzt und aktiv als zweite Kassierin im Sportverein SV "Pfeil" Niederlauer und als Schriftführerin in der Kirchenverwaltung. Deshalb kenne und schätze ich das Leben im Dorf von klein auf und schildere in diesem Bericht meinen ganz persönlichen Blick auf das Landleben.
Quelle: K. Kunzmann
 
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Kommentare
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  • topatopa
    Ein sehr gut geschriebener Artikel eines engagierten „Dorfkindes“. Den „Lubber“ und andere Dorfbekannte gibt es auch bei uns in Sandberg. Auch Zugezogene integrieren und engagieren sich. Viele Grüße in das schöne Niederlauer.
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  • franz-barthel@t-online.de
    Kein Gejammer, wie schön es früher war

    Kompliment, was für eine Geschichte. Ich habe keine Beziehung zu Niederlauer, war vor vielen Jahren einmal mal dort, um über eine Ferkel-Vermittlungszentrale oder so ähnlich zu berichten. Aber, den Beitrag einer Autorin, die sich zu ihrem Heimatdorf so voller Begeisterung bekennt und alle Nuancen des Zusammenlebens wie einst so unterhaltsam rüber bringt, habe ich bis zur letzten Zeile gelesen. Ich habe einige Jahre in einem Dorf gelebt, als Zugezogener, wurde daher nicht hundertprozentig über das Neueste sofort informiert, aber, manchmal, wenn ich erfuhr, wer demnächst von wem ein Kind bekommt, da hatte ich mitunter den Eindruck, dass die Neuigkeit bereits kurz nach dem Befruchten der weiblichen Eizelle den Weg durchs Dorf angetreten haben muss. Ich werde in Zukunft auf Beiträge aus Niederlauer, von dieser Autorin, achten. Eine super Geschichte...
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