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Kiew/Bad Neustadt
Von Bad Neustadt zurück nach Kiew: Warum die Familie Weihmann ins Kriegsgebiet zurückgekehrt ist
Tobias Weihmann und seine Familie haben einige Monate in Bad Neustadt gelebt. Jetzt sind sie wieder in der Ukraine. So haben sie ihre Nachbarschaft vorgefunden.
Der Weihnachtsbaum steht noch immer in ihrer Wohnung in Kiew: Tobias Weihmann und seine Frau Alya Shandra Ende sind seit vergangener Woche wieder in der Ukraine.
Foto: Selfie Tobias Weihmann | Der Weihnachtsbaum steht noch immer in ihrer Wohnung in Kiew: Tobias Weihmann und seine Frau Alya Shandra Ende sind seit vergangener Woche wieder in der Ukraine.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:14 Uhr

Die Fahrt war ereignislos, erzählt Tobias Weihmann: "Von Bad Neustadt bis Kiew praktisch nur Autobahn." Straßensperren, wie sie kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine überall im Lande üblich waren, gibt es keine mehr: "Der Maßstab des Krieges ist jetzt ein anderer."

Der 42-jährige Tobias Weihmann aus Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) lebt seit 2015 in Kiew. Seine Frau Alya Shandra ist Ukrainerin, die beiden haben eine dreijährige Tochter und einen drei Monate alten Sohn. Weihmann ist Software-Entwickler, seine Frau Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenportals Euromaidan Press. Vor den Gefechten um Kiew war das Ehepaar Ende Februar zunächst nach Lwiw (Lemberg) im Westen geflohen. Dort engagierten sich die beiden weiter im Widerstand gegen die russische Invasion.

Ihr Sohn kam in Bad Neustadt zur Welt

Anfang April hatten Weihmann und seine Frau, damals noch hochschwanger, schließlich doch die Ukraine verlassen und eine Wohnung in Bad Neustadt bezogen. Kurz danach kam dort das Kind zur Welt. Nun hat sich die Familie entschlossen, wieder nach Kiew zurückzukehren.

Da die Kindergärten in Kiew noch nicht wieder geöffnet haben, blieb die dreijährige Tochter zunächst bei den deutschen Großeltern. Im Auto saßen Weihmann, seine Frau, der Säugling und Alya Shandras 15-jährige Tochter aus erster Ehe, die sich in Bad Neustadt nie richtig einleben konnte. "Sie ist in Tränen ausgebrochen, als sie endlich wieder in Kiew war", erzählt Weihmann. "Ihr Vater kämpft im Krieg, sie hofft sehr, ihn bald sehen zu können."

Zur Begrüßung hatte sich die ganze Nachbarschaft versammelt

Als die Familie am vergangenen Donnerstag in ihrem Viertel am Rande des Stadtzentrums ankam, hatten sich alle Nachbarn zur Begrüßung versammelt. Das Haus steht noch, in der Küche wartete ein Borschtsch, der Kühlschrank war gefüllt. "Wir hatten fränkisches Bier mitgebracht, es war ein sehr herzlicher Empfang", erzählt Weihmann am Telefon.

Während des WhatsApp-Telefonats ist mal wieder Luftalarm. Auf die Frage, ob das Interview unterbrochen werden solle, winkt er ab: "Das nimmt hier niemand mehr so richtig ernst." Und tatsächlich: Kurz darauf kommt die Entwarnung per App. In der Nähe gibt es zwar einen Keller, der einst sogar komplett mit Bleiplatten gegen radioaktive Strahlung verkleidet wurde. Der Raum sei allerdings wenig einladend und werde gerade renoviert.

Ein Nachbar arbeitet an der Renovierung des einzigen Luftschutzkellers in der Nachbarschaft.
Foto: Tobias Weihmann | Ein Nachbar arbeitet an der Renovierung des einzigen Luftschutzkellers in der Nachbarschaft.

Die Ende Februar hastig verlassene Wohnung ist "konservierte Zeit", sagt Weihmann. Der Weihnachtsbaum, "ein Plaste-und-Elaste-Baum, der nicht nadelt", steht noch – das orthodoxe Weihnachten ist erst am 7. Januar, außerdem ist der Baum in der sowjetischen Tradition eher ein Neujahrsbaum. Ansonsten: beim Aufbruch liegengelassene Sachen und jede Menge Staub.

Das Haus ist übervoll mit Andenken und Büchern

Auf der Flucht hat das Ehepaar lange nur mit dem Nötigsten gelebt. "Jetzt kommen wir zurück, und das Haus ist übervoll mit Andenken und Büchern. Das ist uns zu viel, wir werden erstmal aussortieren. Haushaltsgegenstände, die uns zu viel erscheinen, geben wir an Bewohner des zerstörten Vororts Irpin."

Kiew selbst sei bisher nur punktuell getroffen worden, weil die Luftabwehr funktioniere. "Die Russen können die Stadt nicht mit Flugzeugen in Schutt und Asche legen, wie sie es mit Mariupol gemacht haben, sondern müssen mit teuren Raketen schießen, mit denen kein Teppich-Bombardement möglich ist", sagt Weihmann.

Die Versorgungslage in Kiew ist gut, die Stadt quillt über vor Lebendigkeit

Die Angriffe richteten sich deshalb auf bestimmte Objekte. In Weihmanns Nachbarschaft sind es der Fernsehturm, der trotz früherer Angriffe immer noch steht, und eine Fabrik, in der die Russen Waffenproduktion vermuten. Die Schockwellen der Explosionen hätten einige Häuser und die U-Bahn-Station beschädigt, einige Läden seien geschlossen. Die Versorgungslage insgesamt sei dennoch gut. "Da viele Familien geflohen sind, gibt es keine Probleme, Termine in der Kinderklinik zu bekommen", berichtet Weihmann.

Die Stadt quelle über vor Lebendigkeit. "Die Cafés sind voll. Und das ist auch richtig so", sagt der 42-Jährige. Ende Juli hatte es in Deutschland viel Kritik an einem Foto gegeben, das Innenministerin Nancy Faeser, die deutsche Botschafterin Anka Feldhusen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Arbeitsminister Hubertus Heil auf einem Balkon der Residenz der deutschen Botschafterin in der Ukraine zeigte – fröhlich Sektgläser haltend.

Vielkritisiertes Foto: Innenministerin Nancy Faeser, die deutsche Botschafterin Anka Feldhusen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Arbeitsminister Hubertus Heil im Juli auf einem Balkon der Residenz der deutschen Botschafterin in Kiew.
Foto: Christophe Gateau, dpa | Vielkritisiertes Foto: Innenministerin Nancy Faeser, die deutsche Botschafterin Anka Feldhusen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Arbeitsminister Hubertus Heil im Juli auf einem Balkon der Residenz der ...

Weihmann teil die Kritik ausdrücklich nicht: "Wir wollen uns hier nicht vorschreiben lassen, dass wir wie Ratten mit traurigen Mienen in Kellerlöchern leben sollen", sagt er. "Wir haben das Recht, uns zu freuen und zu leben wie alle anderen auch." Das lasse sich die Ukraine auch von Putin nicht verbieten.

Wieder in Kiew zu sein, ist aus vielen Gründen wichtig für das Ehepaar

Der Krieg ist dennoch allgegenwärtig. Täglich sterben Menschen, das sei aus den deutschen Medien beinahe verschwunden. Weihmann berichtet vom Gespräch mit einem Bekannten aus Butscha, wo die Russen Kriegsverbrechen begingen: "Er hat mit seiner Familie überlebt, weil sich die russische Artillerie bei ihm versteckte. Einen Monat waren sie unter Besatzung, während eine Straße links und rechts davon die Nachbarn ermordet wurden."

Wieder in Kiew zu sein, ist für das Ehepaar aus vielen Gründen wichtig: Tobias Weihmann wird weiterhin Spenden für dringend benötigte Kriegsgüter wie Restlichtverstärker oder Funkgeräte sammeln und sich um die Auslieferung an die Front kümmern. 120.000 Euro seien schon zusammengekommen. Alya Shandra kann wieder Kolleginnen, Interviewpartner und Zeitzeugen vor Ort treffen.

Tobias Weihmann ist zurück in Kiew. Im Garten ein Starlink-Satelliten-Empfänger von Elon Musk und Kartoffeln aus dem eigenen Gemüsebeet.
Foto: Selfie Tobias Weihmann | Tobias Weihmann ist zurück in Kiew. Im Garten ein Starlink-Satelliten-Empfänger von Elon Musk und Kartoffeln aus dem eigenen Gemüsebeet.

"Viele Ukrainer sagen, dass es sich einfach falsch anfühlt, das Land im Stich zu lassen, sich in Sicherheit zu begeben, während die jungen Leute an der Front sterben", sagt Weihmann. Es gehe darum, sich gegenseitig zu zeigen, dass man sich nicht unterkriegen lasse. "Das demonstrative Sitzen in Cafés zum Beispiel gleicht ein bisschen den täglichen Terror mit Luftalarm und Raketeneinschlägen aus."

Tobias Weihmanns Hoffnung ist, dass auch in Deutschland die Unterstützung nicht abreißt und sich Stimmen, die für Verhandlungen mit Putin plädieren, nicht durchsetzen. Wobei schon kleine Gesten helfen: "Es war für uns unglaublich tröstlich, wenn wir sogar in den kleinsten Rhöndörfern ukrainische Fahnen gesehen haben."

 
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