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Sylbach
So läuft unser Alltag mit drei Geflüchteten aus der Ukraine: Was eine Familie aus Sylbach gerade erlebt
Das Sylbacher Ehepaar Vetter hat sich entschieden, eine ukrainische Familie bei sich und den eigenen vier Kindern aufzunehmen. Neun Leute unter einem Dach. Geht das?
Familie Vetter aus Sylbach hat drei ukrainische Geflüchtete, eine Mutter (hinten links) mit ihren beiden Kindern (vorne), bei sich aufgenommen.
Foto: Rebecca Vogt | Familie Vetter aus Sylbach hat drei ukrainische Geflüchtete, eine Mutter (hinten links) mit ihren beiden Kindern (vorne), bei sich aufgenommen.
Rebecca Vogt
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:01 Uhr

Im Garten von Familie Vetter ist ein kleines Schwimmbad entstanden. "Das ist für den Sand", erklärt Anton. Ehe er mit einem Eimer in der Hand wieder losflitzt, um noch mehr Wasser aus der Regentonne zu holen. Auch Danilo läuft eifrig mit einem Wassereimer hin und her. Dazwischen wuseln der kleine Linus und die kleine Oleksandra, die mit ihren Gummistiefeln zuvor schon einen Probelauf durch das Schwimmbad gewagt hat.

Es ist ein sonniger Frühlingsnachmittag. Hinter dem Garten fällt der Blick hinab über die Hausdächer Sylbachs. Die Kinder spielen vergnügt miteinander, vertieft in ihr Schwimmbad-Projekt. Sie scheinen sich auch ohne große Worte zu verstehen. Denn zum einen sind da die Kinder von Familie Vetter und zum anderen Danilo und seine Schwester Oleksandra. Die beiden lebten mit ihren Eltern bis vor Kurzem noch gut 1800 Kilometer Luftlinie von Sylbach entfernt – im ukrainischen Saporischschja.

Flucht aus der Ukraine über Polen nach Deutschland

Der Name dürfte den meisten hierzulande Anfang März im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf das dort in der Nähe gelegene leistungsstärkste Atomkraftwerk Europas auf dramatische Art und Weise bekannt geworden sein. "In dieser Nacht habe ich entschieden, aus der Ukraine zu fliehen", sagt Danilos und Oleksandras Mutter Natalia Kalinskaya. Die 38-Jährige hat auf einem weißen Gartenstuhl Platz genommen. Sie spricht auf Englisch.

"In dieser Nacht habe ich entschieden, aus der Ukraine zu fliehen."
Natalia Kalinskaya, Geflüchtete, über den russischen Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja

Von Saporischschja aus seien sie zunächst nach Lwiw, in den Westen der Ukraine, geflüchtet, erzählt Kalinskaya. Dann nach Polen und von dort aus weiter mit dem Zug nach Deutschland. "Am 8. März sind wir in München angekommen." Über einige weitere Stationen seien sie schließlich Mitte März in Haßfurt gelandet, berichtet die 38-Jährige. Ihr Mann sei noch in der Ukraine, bestätigt Kalinskaya nickend. Plötzlich ringt die zuvor so gefasst wirkende zierliche Frau mit den Tränen.

Manuela Vetter kommt mit einer Packung Taschentücher dazu. Die 36-Jährige und ihr Mann Matthias haben zusammen mit den eigenen vier Kindern – Marie, Anton, Linus und Vinzent – Kalinskaya und deren Kinder Ende März bei sich aufgenommen. Die ukrainischen Gäste wohnen im unteren Teil des Hauses in einem eigenen Zimmer samt Toilette und Bad. "Den Rest des Tages verbringen sie mitten unter uns", erklärt Vetter schmunzelnd mit Blick auf das nun gemeinsam genutzte Wohnzimmer und zum Beispiel die Küche.

Die Entscheidung, Geflüchtete bei sich zuhause aufzunehmen

Sie habe ehrenamtlich als Ärztin im Rahmen von Sprechstunden in der Flüchtlingsunterkunft am Dürerweg in Haßfurt geholfen, erzählt die 36-Jährige. Dort traf sie auf Natalia Kalinskaya und deren Kinder. Sie habe die Frau in der Sprechstunde gesehen und sich gedacht, "die hält das hier nicht mehr lange aus", sagt Vetter. Auch zwischenmenschlich habe es gepasst, sodass die ukrainische Familie kurzerhand das Angebot erhielt, bei den Sylbachern einzuziehen.

"'Die Not ist jetzt da.' Das war so eine klare Aussage, und sie hat Recht gehabt."
Matthias Vetter, Sylbacher, über den Gedanken seiner Frau, Geflüchtete aufzunehmen

"Wenn nicht jetzt, wann dann", habe sie sich im Vorfeld gedacht, als der Landkreis nach Wohnungen für Geflüchtete aus der Ukraine suchte, erinnert sich Vetter. Ihr Mann erzählt, dass er zunächst Bedenken hatte, noch vor Ostern Geflüchtete einziehen zu lassen. "Ich stehe im kirchlichen Dienst, da ist die Zeit vor Ostern immer ziemlich gefüllt", erklärt er. Aber seine Frau habe gesagt: Die Not ist jetzt da. "Das war so eine klare Aussage, und sie hat Recht gehabt." Gesagt, getan. Bereut haben die Vetters ihre Entscheidung, wie sie selbst sagen, bisher nicht.

"In den ersten Tagen hat man extrem gemerkt, dass ihnen viele Dinge abgekommen sind", erinnert sich Manuela Vetter an den Einzug der ukrainischen Familie. Zur Flucht aus der Heimat und der Unterbringung in der Flüchtlingsunterkunft sei noch hinzugekommen, dass Kalinskaya und ihre Kinder zwischenzeitlich unter Corona-Quarantäne standen und somit zusätzlich isoliert waren. Inzwischen habe sich alles eingespielt, berichten die Vetters. Auch Kalinskaya sagt, dass es mit den vier Kindern und den eigenen zwei zwar manchmal viel Geschreie und Gekreische sei, aber "it's okay".

So läuft ein Tag bei den Vetters und ihren ukrainischen Gästen nun ab

"Wir haben uns einen Tagesablauf mit festen Strukturen überlegt", erzählt Manuela Vetter. "Denn wir wussten, nach den Osterferien wird's ernst", fügt sie mit Blick auf den Schulbeginn lachend an. Um 6.45 Uhr starten die beiden Familien unter dem nun gemeinsamen Hausdach in den Tag, wie sie berichtet. Es wird gefrühstückt und die Mütter machen die Brotzeit für ihre Kinder. Um kurz vor halb acht gehen die Kinder dann zur Schule, anschließend werden noch die Kleinen für den Kindergarten fertig gemacht. Manuela oder Matthias Vetter gehen auf die Arbeit, Kalinskaya erledigt Dinge im Haushalt.

Um die Mittagszeit kommen die Schul- und Kindergartenkinder dann nach und nach nach Hause zurück. Es gibt Mittagessen. "Die Mamas wechseln sich mit dem Kochen ab", erklärt Manuela Vetter. So kamen in Sylbach nun auch schon ukrainische Gerichte auf den Tisch. Grundlage sei dabei meistens ein Suppentopf mit Karotten oder Kartoffeln, in den dann zum Beispiel Hühnchenfleisch oder Hackbällchen kommen, erzählt die 36-Jährige. Auch den bekannten Borschtsch gab es schon.

Die Sprachbarriere ist kein Problem: Die Kinder von Manuela und Matthias Vetter und Natalia Kalinskaya spielen bei schönem Wetter zusammen im Garten.
Foto: Rebecca Vogt | Die Sprachbarriere ist kein Problem: Die Kinder von Manuela und Matthias Vetter und Natalia Kalinskaya spielen bei schönem Wetter zusammen im Garten.

Am Nachmittag heißt es für die Kinder dann zunächst: Hausaufgaben machen, wie Vetter weiter berichtet. Danach bleibe Zeit zum Spielen. Wenn das Wetter es zulässt, gehe es zum Beispiel zum Spielplatz oder mit dem Fahrrad nach draußen. Auch Termine würden gut in den Nachmittagszeitraum passen. Um 17.30 Uhr treffen sich dann alle wieder zum Abendessen. Eine Stunde später heißt es für die Kinder der Vetters Schlafenszeit. Auch Natalia Kalinskaya, Danilo und Oleksandra ziehen sich dann in ihr Zimmer zurück.

Warten auf die Registrierung der Geflüchteten

Nachdem in der Anfangszeit viel telefoniert werden musste – etwa, um den achtjährigen Danilo in der Schule und die dreijährige Oleksandra im Kindergarten anzumelden, ist es nun vor allem noch die ausstehende Registrierung der Geflüchteten, die schleppend verläuft, wie Manuela Vetter berichtet. Aktuell gebe ein Nachbar Natalia Kalinskaya Deutsch-Unterricht, erzählt sie. Um aber ab Ende Juni einen Deutsch-Kurs besuchen zu können, der Kalinskaya auch gleich auf die Aufnahme eines Berufs mit vorbereiten würde, brauche es endlich Planungssicherheit, sprich: die Registrierung.

Während, was die Behörden betrifft, offenbar Geduld gefragt ist, berichten die Vetters auch von der großen Hilfsbereitschaft, die sie beziehungsweise ihre ukrainischen Gäste durch Nachbarinnen und Nachbarn, den Freundeskreis sowie Bekannte erfahren. "Alle bieten sich irgendwie an. Man ist nicht alleine, es gibt immer jemanden, der einspringt. Und jeder hilft, wie er kann", erzählt Manuela Vetter. Auch Kuchen hätten schon unvermittelt vor der Tür gestanden. Sichtlich gerührt erklärt Natalia Kalinskaya, dass sie allen einfach nur "Danke" sagen wolle.

Ein Negativerlebnis gab es aber auch, wie Vetter berichtet. Sie habe der Familie im Internet einen gebrauchten Buggy bestellen wollen. Den Gleichen, den sie schon in der Ukraine hatte. Vetter fragte den Verkäufer, ob man beim Preis noch verhandeln könne. Dessen Antwort: Für die Ukraine doppelter Preis. Versehen mit einer russischen Flagge, wie die 36-Jährige anfügt. Auch das gehört offenbar zur Realität in Deutschland.

"Es ist wichtig, diesen Menschen ein Stück Normalität zurückzugeben."
Manuela Vetter, Sylbacherin, die Geflüchtete bei sich aufgenommen hat

Dennoch könne sie alle nur ermutigen, die noch Wohnraum haben, unterstreicht Vetter. "Einfach den Mut haben und es einmal ausprobieren." Es gebe notfalls auch immer einen Weg zurück. Die Sprachbarriere, ergänzt sie, sei "nicht so als Problem zu sehen", hier helfe etwa der Google-Übersetzer. "Es ist wichtig, diesen Menschen ein Stück Normalität zurückzugeben", sagt Vetter. Das gehe in einer Turnhalle nicht. "Und", mit Verweis auf die große Hilfsbereitschaft aus dem Freundes- und Bekanntenkreis sowie der Nachbarschaft, "man steht auch nicht alleine da."

Ukrainische Geflüchtete im Landkreis Haßberge

657 Geflüchtete aus der Ukraine sind nach Angaben des Landratsamts bislang im Landkreis Haßberge aufgenommen worden. 283 von diesen seien dabei unter 21 Jahre alt. Nicht mitgerechnet sind die Geflüchteten, die inzwischen weitergezogen sind, wie das Landratsamt ergänzt.
In lokalen Notunterkünften waren Ende April (Stand: 27. April) 77 Personen untergebracht. 580 Geflüchtete befanden sich dem Landratsamt zufolge in einem privaten Wohnumfeld, das heißt zum Beispiel in einer eigenen Wohnung oder einer Wohngemeinschaft mit Einheimischen oder anderen Geflüchteten.
Freie Wohnungen und Häuser für ukrainische Geflüchtete können über die Website des Landratsamts oder über die Seite des Innenministeriums gemeldet werden.
(bex)
 
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