Das erste, was die Ukrainerin Inna Yakymenko am Freitagmorgen fragt, als der Mann von der Zeitung kommt, ist: "Haben Sie heute Nachrichten gesehen? Es ist schrecklich." Zunächst ist unklar, was sie meint, aber als sie erzählt, dass ihre Familie in Saporischschja lebt, ist klar, dass sie den Beschuss des in der Nähe befindlichen Atomkraftwerks meint – des größten in Europa.
Sie habe wieder eine schlaflose Nacht verbracht, sagt die 56-Jährige. Ihr Mutter ist dort, ihr Sohn verbringt mit Frau und dem fünfjährigen Enkel die Nächte im Keller und baut tagsüber Molotowcocktails und schweißt Panzersperren zusammen. Dabei habe sie ihm lange vor Beginn des russischen Angriffs geraten, er solle wenigstens seine Frau und das Kind zu ihr nach Rieneck bringen, aber er sei der Meinung gewesen, sie übertreibe. Jetzt, ohne Fluchtkorridor, kommen sie nicht mehr raus.
Geschafft hat es hingegen der beste Freund ihres Sohnes mit seiner Frau und den drei Kindern. Seit Mittwochabend waren sie bei Yakymenko in Rieneck. Sie, die eine kleine Baufirma in Kiew haben, hatten schon vor dem Angriff für den Fall der Fälle Fluchtpläne gemacht. Katja erzählt auf Englisch, dass sie am ersten Angriffstag gleich hätten losfahren wollen, aber dass die Straßen verstopft gewesen seien. "Ich hatte Angst, dass die Autos beschossen werden." Am Nachmittag schafften sie es dann und fuhren 17 Stunden nach Iwano-Frankiwsk im Südwesten des Landes. Zwei Tage lang hätten sie gar nicht geschlafen, erzählt sie. Erst als sie in Moldawien angekommen seien, hätten sie gleich an einer Tankstelle einige Stunden Schlaf gefunden.
Seit 2016 lebt Inna Yakymenko in Deutschland. In zweiter Ehe ist sie mit ihrem Mann Oleg verheiratet, der seit 2007 hier ist und als Lkw-Fahrer arbeitet. Er sei oft tagelang unterwegs, sagt sie, so auch am Freitag. Es muss Geld reinkommen für den Kredit, den sie für ihr Häuschen in Rieneck aufgenommen haben. Zuvor lebten sie zur Miete in Gemünden und Laudenbach. Sie selbst möchte auch wieder arbeiten, früher war die ehemalige Leistungsschwimmerin Laborantin und später Buchhalterin in einem ukrainischen Partnerwerk des Zwickauer Trabantherstellers.
Über die von Putin angeführten Gründe für eine Invasion der Ukraine, nämlich dass die Ukrainer im Donbass einen Völkermord begingen und dass er das Land von Nazis befreien müsse, kann sie nur ungläubig lachen. "Putin macht Genozid." Sie erzählt vom "Holodomor" durch Stalin, dem Verhungernlassen von Millionen Ukrainern Anfang der 1930er Jahre.
In der Ukraine lebten viele verschiedene Völker friedlich zusammen, sagt sie. Ihr Vater habe deutsche Vorfahren, ihr Stiefvater sei Georgier, sie selbst habe immer russisch gesprochen. Die einst 15 000 Angestellten des Automobilwerks in Saporischschja – etwa 200 Kilometer westlich von Donezk und 200 Kilometer nördlich der Krim – seien aus der ganzen Sowjetunion gekommen. "Keine Probleme", sagt sie. Es will ihr nicht in den Kopf, wie Putin darauf kommt, dass in der Ukraine Nazis an der Macht seien.
Schon lange die Befürchtung, dass Putin mehr als die Krim und den Donbass will
Jetzt verfolgt sie sorgenvoll, wie es ihrer Familie und ihren Landsleuten ergeht. Täglich telefoniere sie mit ihrer Mutter und ihrem Sohn. Weil Strom und Empfang gestört sein könnten, hat sie mit ihrer Mutter ausgemacht, dass diese jeden Morgen um 9 Uhr ein Lebenszeichen sendet. Sie selbst lese Nachrichten auf Deutsch, verwende zum Teil ein Übersetzungsprogramm, verfolge aber auch interessiert russische Nachrichtenseiten.
Und natürlich bekommt sie beunruhigende Videos und Botschaften über Messenger. Sie befürchtet, dass Putin den östlichen Teil der Ukraine zerstören und entvölkern will als Puffer gegenüber dem Westen. Sie habe lange das Risiko gesehen, dass Putin mit den ganzen auf der Krim stationierten Soldaten und der Wasserknappheit sich auch das nördlich davon verlaufende Dnjepr-Tal schnappen will.
Dass Putin seine Armee in die Ukraine einmarschieren lässt, habe sie kurz vorher sicher gewusst. Es klingt etwas abergläubisch, aber ihre Oma habe ihr einst gesagt, dass es Krieg gebe, wenn es im Winter donnere und blitze, aber auf dem Boden kein Schnee liege. Als dies 2014 der Fall gewesen sei, habe sie sofort an diese Prophezeiung denken müssen, erzählt die 56-Jährige. Und schon ließ Putin seine Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim einmarschieren. Einen Tag vor dem russischen Angriff auf die Ukraine habe es beim Kaffeekränzchen mit ihrer 92-jährigen Nachbarin Hilde gedonnert – und schon seien die Russen einmarschiert.
Unterstützung aus der Nachbarschaft
Inna Yaykmenko zeigt sich dankbar für die Unterstützung ihrer Rienecker Nachbarn. Alle seien sehr freundlich. Eine Nachbarin habe sich auch schon bereit erklärt, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. Sie glaubt nicht, dass sich Putin mit der Ukraine begnügen würde, sondern immer mehr will. So wie er sich zuvor schon stückchenweise Teile Georgiens, die Krim und die selbsternannten Volksrepubliken im ukrainischen Donbass einverleibt habe. "Putin ist verrückt." Sie frage sich, warum der Westen erst so spät reagiert hat und warum immer noch keine Flugverbotszone eingerichtet sei.
Ihre aus der Ukraine geflohenen Gäste möchten weiter nach Großbritannien, wo Katjas Schwester lebt. Katja und Sascha wissen noch nicht, wie die Einreise dort mit dem mitgebrachten Familienhund möglich ist. Inna Yakymenko möchten sie nicht lange zur Last fallen. Es klingt nicht so, als ob sie die Hoffnung hätten, bald wieder zurück in die Ukraine zu kommen. Am Montag berichtet Yakymenko, dass sie bei Nachbarn untergekommen seien. Bei ihr seien inzwischen neue Geflüchtete eingezogen.
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Rechtfertigungsbedarf sieht die junge Familie, weil Vater Sascha auch mit ausgereist ist und nicht zum Kämpfen in ihrem Heimatland geblieben ist. Normalerweise dürfen Männer zwischen 18 und 60 das Land momentan nicht verlassen, sondern sollen es verteidigen. Aber bei Familien mit mindestens drei Kindern, noch dazu eins mit Autismus, dürfe der Mann mit ausreisen. Er habe deswegen ein schlechtes Gewissen. Ihre Mütter lebten derzeit in Saporischschja im Keller. "Im Moment haben sie genug zu essen, aber wir wissen nicht, wie lange noch", sagt Katja.