Jürgen Kehrlein ist Vorstandsmitglied des Aktionskreises Haßfurt Aktiv (AHA). "Für mich als deutscher Bürger ist die Situation untragbar", so Kehrlein im Gespräch mit der Redaktion. Er möchte am liebsten sofort loslegen und helfen. Dafür hat der AHA, allen voran Jürgen Kehrlein, sich etwas überlegt. "Die Stadt Haßfurt bekommt eine Menge Fördergelder für Smart-Green-City", so der CSU-Stadtrat. Davon könnte man doch eine geringe Summe abzweigen und eine App entwickeln lassen. Diese App könnten sich jeder Interessent und jede Interessentin aufs Smartphone laden. Egal ob Wohnungsanbietende oder -suchende, Hilfeanbietende oder oder oder. Im Rahmen der Zukunftsmesse auf dem Haßfurter Marktplatz hatte der AHA Anfang April ausgiebig an einem eigenen Stand über dieses Thema informiert.
"Mit wenigen Klicks wäre alles erledigt", stellt Kehrlein sein Modell vor. Nur etwa zehn Fragen müssten beantwortet werden und schon wären die Voraussetzungen für eine digitale Erfassung erfüllt. Seit der Zukunftsmesse, so Kehrlein, habe man in Erfahrung bringen können, dass im Landkreis Haßberge rund 250 Wohnungen leerstünden, die für die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge vorbereitet werden könnten. Das würde in Konsequenz auch bedeuten, dass man die beiden Turnhallen am Schulzenrum in Haßfurt nicht in eine Art Aufnahmelager umfunktionieren und damit den Schülern den Sportunterricht streichen müsste.
Schon vor sieben Jahren sei Kehrlein auf Bitte des Landratsamtes Haßberge aktiv geworden. Er als selbstständiger Unternehmer in der Baubranche habe schon 2015 und 2016, als alleine über eine Million Asylsuchende vor allem wegen des Bürgerkriegs in Syrien in Deutschland versorgt werden mussten, die zur Verfügung stehenden Häuser für die Aufnahme der Asylanten hergerichtet. Diesmal habe die Behörde wieder bei ihm angefragt, ob er diese 250 Wohnungen flüchtlingsgerecht aufbereiten könne, was Kehrlein auch zusagte. "Vor fünf Jahren ist das noch irgendwie gutgegangen", resümiert der Baufachmann, "aber jetzt haben wir eine ganz andere Situation und eine andere Dimension."
Chance der Digitalisierung
Dabei erinnerte er sich, dass die Kreisstadt in den Genuss einer großzügigen Förderung als Modellkommune für die Digitalisierung kommt. Daraus könnte man ja seinen Nutzen ziehen, so der Unternehmer. "Wir sollen doch die Digitalisierung voranbringen", erläutert Kehrlein, "und hier böte sich eine gute Gelegenheit, die Digitalisierung zum einen für eine wirklich effektive Flüchtlingsarbeit einzusetzen und zum anderen den Bürgerinnen und Bürgern zu demonstrieren, welchen Vorteil die Digitalisierung im richtigen Leben bringen kann." Natürlich weiß der AHA-Vorstand, dass er damit die Behörden ein wenig unter Zugzwang setzt. "Aber es ist doch besser", so das Stadtratsmitglied, "wenn wir mit unseren fertigen Wohnungen vor der Welle herschwimmen, als wenn wir warten, bis sie kommt, und dann versuchen, zu reagieren."
App verbindet Wunsch und Wirklichkeit
In eine solche App könnten hilfsbereite Wohnrauminhaber eintragen, welche Art von Wohnung sie bereitstellen könnten, ein Zimmer, eine Ferien-, Dach- oder Kellerwohnung, welches Baujahr, wann renoviert. Hier könnten auch Wünsche geäußert werden, ob man zum Beispiel lieber eine ältere Dame mit einem Hund oder eine junge Frau mit Kindern aufnehmen möchte. Andererseits könnten sich Geflüchtete, die eine Unterkunft suchen, hier anmelden und ihren Wunsch eingeben.
In so einem System wären außerdem noch viel mehr Auskünfte möglich, zum Beispiel über welche Qualifikation die Geflüchteten verfügen, ob sie für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden, welche Sprachkenntnisse sie aufweisen. Immer natürlich mit den Vorgaben des Datenschutzes in Einklang, weiß Kehrlein. Aber auch Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit längerer Zeit in Deutschland leben und als Dolmetscher oder anderweitig helfen könnten, würden sich in die App eintragen können. So könnte die Software in kürzester Zeit Lösungen suchen und finden.
Der AHA hat sich für dieses Projekt auch ein Motto in Verbindung mit dem russischen Wort "Mir" - das steht für Frieden oder Welt - einfallen lassen. "Wir - Mir: digital schaffen wir Frieden."
Appell an alle Bürgerinnen und Bürger
Aber auch solange noch keine App zur Verfügung steht, appelliert der AHA an alle Haßfurter und die Bevölkerung im ganzen Landkreis Haßberge, bei der jeweiligen Kommune oder im Landratsamt vorstellig zu werden und den Wohnraum zu melden, den man Geflüchteten aus der Ukraine zur Verfügung stellen möchte.
Mit am Tisch sitzt Svitlana Dürnhöfer, die Kehrlein bei seinen Bemühungen unterstützt. Sie stammt aus der Ukraine, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Luhansk. Das liegt mitten im Donbass. Bekanntlich annektierte Russland 2014 in Reaktion auf den Kiewer "Euromaidan" die Krim und entfachte einen Konflikt im Osten der Ukraine. Das war der erste Schritt in den aktuellen brutalen Krieg.
Svitlana lebt seit elf Jahren in Deutschland, hat im Zuge ihrer Promotion ihren heutigen Ehemann kennengelernt. Um sich benötigte Dokumente ausstellen zu lassen, besuchte sie kürzlich ihre alte Heimat und geriet ins Kriegsgeschehen. "Unser Dorf gibt es inzwischen nicht mehr", sagt Svitlana. "Die Russen schießen so lange, bis nichts mehr übrig ist." Ihre Familie war bereits 2014 aus der alten Heimat weggezogen. "Plötzlich waren wir zu Hause fremd geworden."
Arbeit ohne Ende
Svitlana - das ist die ukrainische Form des Vornamens, erklärt sie, Svetlana wäre russisch und derzeit deshalb unbeliebt - ist ehrenamtlich tätig. Sie dolmetscht oder fährt traumatisierte Kinder zur ärztlichen Behandlung. "Das dauert länger als fünf Minuten", sagt sie. "Und es gibt Arbeit ohne Ende." Aber sie will kein Geld. Wie es ohnehin vielen Ukrainern schwerfällt, sagt sie, Geldgeschenke anzunehmen. Die Ukrainer brauchen Hilfe, aber sie möchten auch etwas dafür geben. Arbeiten, sich einbringen, nichts geschenkt.
"Jeder der helfen will und kann ist willkommen", sagt Jürgen Kehrlein. "Es muss einfach etwas getan werden." Denn: eigentlich sitzen die Ankömmlinge auf gepackten Koffern, weil sie zurück nach Hause wollen. "Aber wohin?", fragt Kehrlein. "Die Russen haben doch nicht nur einzelne Wohnungen zerstört, sondern inzwischen ganze Städte."
Das Landratsamt Haßberge hält allerdings von dem AHA-Projekt nicht viel. "Wir haben geprüft, ob uns die App einen Mehrwert bringt. Eine App funktioniert leider nicht von alleine, sie muss gepflegt, mit Informationen gespeist und ständig aktualisiert werden", so die Sprecherin der Behörde, Monika Göhr, auf Anfrage. "Auf unserer Internetseite stellen wir bereits alle notwendigen Informationen zur Verfügung. Mit der App müssten wir also eine weitere Plattform mit Daten versorgen, was uns die Arbeit leider verdoppelt."
Auch im Hinblick darauf, dass nicht alle ukrainischen Vertriebenen diese App nutzen würden, "konzentrieren wir uns darauf", so Göhr, "unsere Homepage auf dem Laufenden zu halten, und setzen auf die persönlichen Kontakte. Die Kriegsflüchtlinge erhalten durch das BRK sowie die Caritas und durch unsere hauptamtliche Integrationslotsin Siza Zaby alle Informationen sowie Hilfen, die notwendig sind".
Schon weit über hundert Ukraine-Geflüchtete in Haßfurt
Sofern die Stadt Haßfurt Interesse an der Nutzung dieser App habe, könne sie aus Sicht der Kreisbehörde diese in eigener Verantwortung bereitstellen. Was Bürgermeister Günther Werner nicht von vorneherein ablehnen möchte, aber: "Wir unterstützen den Landkreis in Sachen Wohnungsvermittlung, denn der ist in erster Linie für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig." Mit Stand 7. April, so der Bürgermeister, seien bereits 123 Flüchtlinge aus der Ukraine in der Kreisstadt untergebracht gewesen. Derzeit gebe es noch einen Bestand von 40 gemeldeten Unterkünften für Ukraine-Geflüchtete in Haßfurt.
Laut Auskunft des Landratsamtes, so Günther Werner, mit dem sich die Stadt zu dem Thema bereits ausgetauscht habe, würden die Angaben zu den Unterkünften und Flüchtlingen bereits digital erfasst. Er habe die App, die der AHA gerne einführen möchte, auch noch nicht zu Gesicht bekommen. Ob folglich eine weitere App notwendig sei, könne er erst abschließend beurteilen, wenn die Chef-Digitalisiererin der Stadt, Madlen Müller-Wuttke, aus dem Urlaub zurückgekehrt sei und dazu eine Einschätzung vorgenommen habe. Man dürfe auch die Frage der Kosten, so Werner, dabei nicht außer Acht lassen.