Bei den Jüdischen Kulturtagen von Stadt und Landkreis, die seit 2002 in regelmäßigen Abständen stattfinden, ist man immer wieder bemüht, die Vielfalt des einstigen jüdischen Lebens aufzuzeigen, gesellschaftliche Themen anzuschneiden und die kulturelle Buntheit dieser früheren Epoche zu erfassen. So wird dem Gedenken an all diejenigen, die einmal hier lebten und Opfer von Vertreibung, Deportation und brutalem Nazi-Terror wurden, ganz bewusst Rechnung getragen.
Es ist für die Menschen heute kaum mehr vorstellbar, dass noch um 1930 in Unterfranken 112 Synagogen standen und der heutige Regierungsbezirk das am dichtesten mit jüdischen Gemeinden besiedelte Gebiet Bayerns war. Seit 1839 in Bad Kissingen das Bezirksrabbinat eingerichtet worden war (mit 24 und später 28 Gemeinden), hatte sich der Ort offenbar zum religiösen Zentrum Unterfrankens entwickeln können.
Und weil die jüdische Bevölkerung weiter wuchs, wurde 1902 eine neue mächtige Synagoge in der Maxstraße errichtet, die mit zu den größten in Bayern zählte (sie wurde in der Pogromnacht 1938 stark beschädigt und ein Jahr später abgerissen). Mitte der 1920er Jahre soll Bad Kissingen mit rund 500 Mitgliedern sogar eine der zehn größten jüdischen Gemeinden auf bayerischem Gebiet gewesen sein.
Mindestens ein Drittel der Kurgäste war jüdisch.
Belegt ist zudem, dass von den 34.000 Kurgästen, die Bad Kissingen Anfang des 20. Jahrhunderts besuchten, mindestens ein Drittel jüdisch waren. Denn die Heilbäder lockten schon damals nicht nur Gäste aus dem Inland, sondern auch aus dem Ausland an. Zeitweise soll Bad Kissingen auch Treffpunkt für Rabbiner aus ganz Europa gewesen sein.
Mit den Jüdischen Kulturtagen, die heuer von April bis September stattfinden, will man nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern den Blick stets auch auf Gegenwart und Zukunft richten, sagte Oberbürgermeister Dirk Vogel beim Pressetermin im Rathaus. In diesem Zusammenhang wies er auf das städtische Projekt hin, die 488 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof von 1817 bis 1942 zu vermessen, zu fotografieren und dann digital für immer festzuhalten, wer dort begraben liegt.
Vor 20 Jahren hatte der Bad Kissinger Hans-Jürgen Beck, damals noch als Gymnasiallehrer tätig, die Idee, in der Kurstadt regelmäßig Jüdische Kulturtage abzuhalten. Denn er hatte sich schon seit seinem Studium intensiv mit dem Jüdischen Leben in Bad Kissingen beschäftigt und dazu ein interessantes Buch verfasst.
Jüdische Kulturtage künftig alle drei Jahre
Die Vertreter von Stadt und Landkreis waren sofort dabei. Seitdem stellt Beck stets ein interessantes Programm zusammen, das 40 bis 60 Veranstaltungen umfasst. 2020 fanden die Kulturtage wegen der Pandemie in verkürzter Form statt, sagt Beck im Gespräch mit dieser Redaktion, künftig will man einen Dreijahres-Rhythmus einhalten. Unterstützung erhielt Beck von Kulturreferent Peter Weidisch sowie den beiden Projektleitern Michael Balk (Stadt) und Felix Gantner (Landkreis).
2022 will man im Rahmen der Veranstaltung auch die seit 25 Jahren bestehende Partnerschaft des hiesigen Landkreises mit der israelischen Region Tamar würden, sagte Landrat Thomas Bold beim Pressetermin. Der Grundstein für diese intensiven freundschaftlichen Bande war seinerzeit vom damaligen Landrat Herbert Neder und Joske Ereli (beide sind bereits verstorben) gelegt worden.
Der für dieses Jahr eigentlich geplante Jugendaustausch wurde allerdings laut Landratsamt auf 2023 verschoben, weil die israelischen Jugendlichen als offizielle Reisegruppe wegen der Pandemie nicht ausreisen dürfen. Vom 6. bis 12. April fliegt aber eine Delegation, bestehend aus Landrat Thomas Bold und Vertretern der Kreistagsfraktionen, nach Israel.
Vorträge und Lesungen, die tief bewegen
Auch bei der heuer 8. Auflage der Jüdischen Kulturtage mit 55 einzelnen Programmpunkten geht es um Vorträge, die sehr bewegen, um Lesungen, die innerlich anrühren und um Ausstellungen, die die Gäste eintauchen lassen in die damalige Lebenswirklichkeit der jüdischen Bevölkerung. Aber man bekommt auch ein Gefühl für alte jüdische Traditionen und für die kulturelle Lebensfreude all dieser Menschen, die früher hier zu Hause waren.
Und so darf man sich zum Beispiel im Mai auf das Trio Folkadu freuen, das mit traditionellen jüdischen Melodien und israelischen Volksliedern aufwartet oder auf den ukrainisch-deutsch-jüdischen Bassisten Igor Dubovsky (Bass, Klavier), der im Juni und im August jiddische und hebräische Lieder spielt. Das Klaviertrio Würzburg ist schon lange fester Bestandteil der Jüdischen Kulturtage und gestaltete jedes Mal eigens für Bad Kissingen ein spezielles Programm.
Natürlich sollte auch ein Operettenabend nicht fehlen, denn wie kaum ein anderes Musikgenre wurde die Operette von jüdischen Künstlern mitgeprägt. Die Sopranistin Akiho Tsujii und der Tenor Roberto Ortiz wissen genau, wie sie die Gäste bei der Veranstaltung im September mit Melodien aus Strauß‘ "Fledermaus", Kálmáns "Csárdásfürstin" oder Léhars "Lustige Witwe" begeistern können.
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt es kaum noch
Was die 25 Vorträge angeht, die über das Veranstaltungsjahr stattfinden, ist es schwer Highlights zu benennen, denn es ist einfach zu viel Spannendes und Interessantes dabei. Roland Flade (Würzburg) ist wieder mit von der Partie, der die Lebensgeschichten einiger jüdischer Familien nachzeichnet, und Hochschulpfarrer Burkhard Hose, der die sich wandelnde Erinnerungskultur nachzeichnet, denn inzwischen gibt es kaum noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die davon berichten können, was sie selbst erlebten.
In weiteren Veranstaltungen geht‘s zum Beispiel um den Hammelburger Machsor, ein reich illustriertes Gebetbuch, das 1349 für den damaligen Hammelburger Rabbiner ausgestaltet wurde oder um den Erfinder der Jeans Levi Strauss. Klaus Bub (Maßbach), Cornelia Mence (Hammelburg), Peter Kaidel (Bad Kissingen) und Robert Schmitt (Bad Bocklet) übernehmen interessante Führungen auf den örtlichen Friedhöfen.
Auch das Thema Antisemitismus ansprechen
Und Christian Ude kommt. Der frühere Münchner Oberbürgermeister nimmt beim Termin im Mai das Leben des ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner unter die Lupe. Dass er 1918 den Freistaat Bayern ausrief und ein Jahr später ermordet wurde, weiß man vielleicht gerade noch. Auf Eisner gehen aber zum Beispiel auch der Acht-Stunden-Arbeitstag und die Arbeitslosenversicherung zurück.
Mit dabei sind zudem Ludwig Spaenle, der bayerische Beauftragte für jüdisches Leben, und Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitismus. Beide setzen sich in ihren Vorträgen im Mai und Juli kritisch mit antisemitischen Strömungen in Deutschland auseinander. Auch Programmleiter Hans-Jürgen Beck ist freilich selbst mit von der Partie und hat zu seinen drei Vorträgen im Juli und August auch Sigismund von Dobschütz mitverpflichtet.
In der Wanderausstellung "Mehr als Steine. Synagogen in Unterfranken", die in Münnerstadt, Hammelburg, Bad Brückenau und Bad Kissingen zu sehen sein wird, geht es nicht nur um die 112 Synagogen, die es noch bis 1930 im heutigen Regierungsbezirk gab, sondern im weiteren Sinne um die Geschichte der damals recht lebendigen jüdischen Gemeinden.
Tag der Deportation jährt sich zum 80. Mal
Eine Gedenkveranstaltung für die aus Bad Kissingen deportierten Juden findet am 24. April um 14 Uhr in der Maxstraße 23 in Bad Kissingen statt (Anmeldung erbeten). An diesem Tag jährt sich zum 80. Mal die Deportation der in der Stadt einst lebenden jüdischen Männer, Frauen und Kinder.
Das Programm ist ab sofort auf der Internetseite des Landkreises Bad Kissingens, der Stadt Bad Kissingen und der Städtischen Volkshochschulen Bad Kissingen und Hammelburg zu finden sowie unter www.kultur-kg.de/juedische-kulturtage.