Wer über jüdische Geschichte schreibt, steckt in einem Dilemma. Betont man die guten Zeiten, die es immer wieder gab (Variante eins), so handelt man sich den Vorwurf ein, die Dinge zu idealisieren. Stellt man aber die vielen Verfolgungen in den Mittelpunkt (Variante zwei), so ergibt sich schnell eine Geschichte von Mord und Totschlag, noch dazu eine, die nicht beendet scheint.
Aber: Welche Möglichkeit außer Variante zwei bleibt angesichts der beispiellosen Verbrechen im Dritten Reich, deren jahrhundertelanger Vorgeschichte und der Tatsache, dass antisemitische Straftaten heute stark zunehmen? Wie kann man nach der Attacke in Halle von 2019, deren eigentliches Ziel ein Massaker unter betenden Juden war, so tun, als ob die Gefahr endgültig gebannt wäre?
Die Anfänge im 12. Jahrhundert - mit Morden
Schon beim Bericht über den Anfang der jüdischen Geschichte in Unterfranken drängt sich Variante zwei auf. Die erste jüdische Siedlung befand sich in Würzburg, wo sich Juden bereits zu Beginn des zwölften Jahrhunderts niederließen. Am 24. Februar 1147 nahmen Teilnehmer des zweiten Kreuzzugs und Würzburger Bürger den ungeklärten Mord an einem jungen Mann zum Anlass, um über die Juden herzufallen und 22 von ihnen zu töten.
Auch die erste Erwähnung von Kitzinger Juden im Jahr 1243 hat einen blutigen Hintergrund. Aus unbekannten Gründen wurden sechs jüdische Männer und zwei Frauen erschlagen und gerädert. Schweinfurter Juden sind erstmals 1212 erwähnt, ausnahmeweise nicht im Zusammenhang mit einer Verfolgung.
Blühende jüdische Gemeinde
Zu diesem Zeitpunkt florierte die jüdische Gemeinde in Würzburg. Sie besaß eine Synagoge und ein Lehrhaus; von weither kamen Talmudschüler, um bei bedeutenden Rabbinern zu studieren. Wie viele es waren, zeigte sich, als 1987 im Stadtteil Pleich beim Abbruch eines Hauses 1456 Grabsteine und Fragmente vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof gefunden wurden, die nach der Vertreibung der Juden aus der Bischofsstadt als Baumaterial verwendet worden waren. Auf zahlreichen Steinen fanden sich die Namen von anerkannten Lehrern.
Nicht nur wohnten jüdische Familien damals Tür an Tür mit Nichtjuden, sondern sie hatten zeitweise auch hohe Stellungen inne. So dienten dem bischöflichen Stadtherrn die Juden Jechiel als Münzmeister und Michelmann als Verwalter Iphofens (Lkr. Kitzingen).
Zeit schwerer Verfolgungen und Denunziationen
1298 setzte eine Periode schwerster Angriffe ein. Anlass der ersten Verfolgung war der haltlose Vorwurf, die Juden würden den Akt der Hinrichtung Christi ständig dadurch wiederholen, dass sie Hostien, die nach katholischer Lehre im Gottesdienst in den Leib Christi verwandelt werden, durchbohren. Ein solcher jüdischer "Hostienfrevel" ereignete sich angeblich 1298 in Röttingen (Lkr. Würzburg). In der Folge sammelte ein Adeliger namens Rintfleisch judenfeindliche Massen um sich und stiftete blutige Ausschreitungen in Franken an. Insgesamt 146 jüdische Gemeinden fielen der Vernichtung anheim, darunter Röttingen, Ochsenfurt (Lkr. Würzburg), Kitzingen, Schweinfurt, Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen) sowie Karlstadt, Gemünden und Lohr im heutigen Landkreis Main-Spessart. Allein in Würzburg starben 900 Juden.
Nicht weniger katastrophale Auswirkungen hatte die Behauptung, jüdische Brunnenvergiftung sei für die Pest verantwortlich, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte und deren Ursache damals unbekannt war. Das veranlasste die Bewohner zahlreicher Städte, die in ihrer Mitte wohnenden Juden umzubringen – so auch am 21. April 1349 in Würzburg.
Vorschriften - und die Vertreibung aus der Stadt
Langsam ging es wieder aufwärts. Im 15. Jahrhundert praktizierten mehrere jüdische Ärzte im Hochstift Würzburg, dem Herrschaftsgebiet des Bischof, darunter einer als dessen Leibarzt. Gleichzeitig verschärfte die Kirche die auf Absonderung zielenden diskriminierenden Maßnahmen und Kleidervorschriften. Im 16. Jahrhundert wurden die Juden fast überall aus den Städten vertrieben und über das Land verstreut. Die Würzburger Juden ließen sich überwiegend in Höchberg, Reichenberg, Heidingsfeld und Veitshöchheim nieder, wo im 18. Jahrhundert prächtige Synagogen entstanden.
Im 19. Jahrhundert: Zuzug und jüdische Besiedelung
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Unterfranken zu Bayern kam, war der Regierungsbezirk der am dichtesten mit Juden besiedelte Teil des Königreichs. Nachdem der Zuzug in die Städte wieder erlaubt war, wurden neue Gotteshäuser errichtet, so in Würzburg (1841), Kitzingen (1893), Bad Kissingen (1902) und Bad Brückenau 1913. Im Ersten Weltkrieg starben rund 12 000 deutsche Juden den "Heldentod fürs Vaterland", darunter 40 Würzburger, zwölf Schweinfurter und drei aus Veitshöchheim.
Weimarer Republik: Zwischen Integration und Antisemitismus
Seit dem Kaiserreich griff der Rassenantisemitismus um sich. Nach dem Krieg, dessen unrühmliches Ende viele den Juden vorwarfen, nahmen alle Würzburger Studentenverbindungen, die vorher auch jüdische Mitglieder gehabt hatten, keine Juden mehr auf, da sie diese als minderwertige Spezies betrachteten. Der spätere NSDAP-Gauleiter und unterfränkische Regierungspräsident Otto Hellmuth führte ab 1920 einen brutalen verbalen Kampf gegen die Juden; so warf er ihnen 1929 vor, einen "Ritualmord" verübt zu haben, als bei Manau (Lkr. Haßberge) ein viereinhalbjähriger Junge ermordet wurde, ohne dass man einen Täter ermitteln konnte.
Gleichzeitig war die Weimarer Republik jene Periode, in der die Juden am stärksten in die Gesellschaft integriert waren. Sie ruderten wie der später ermordete Würzburger Ernst Ruschkewitz mit nichtjüdischen Freunden auf dem Main, löschten wie Ludwig Ehrlich in Bad Kissingen mit den Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr Brände oder gehörten wie Alfred Kleemann, Max Vochheimer, Günther Thalheimer und Fritz Krebs zu den "Jungschützen" des Krieger- und Schützenvereins Gaukönigshofen.
Deportationen - und tausendfacher Tod
Der Nationalsozialismus brachte den unterfränkischen Jüdinnen und Juden tausendfachen Tod: Am Würzburger Hauptbahnhof erinnert seit dem vergangenen Sommer ein Mahnmal an die Deportationen, die, bis auf eine in Kitzingen organisierte Verschleppung, alle in der Domstadt ihren Anfang nahmen. Nur wenige Überlebende kehrten zurück und gründeten die Kultusgemeinde in Würzburg neu, die seit 2001 erstmals seit Kriegsende in Jakov Ebert einen Rabbiner besitzt.
Der Weg zu besseren Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ist steinig. Noch in den 1950er Jahren war in katholischen Kirchen Unterfrankens am Karfreitag von den "treulosen Juden" die Rede. In den Siebzigern weigerte sich der Pfarrer von Röttingen lange, die Darstellung des erfundenen Hostienfrevels aus seiner Kirche zu entfernen. Dann waren es jedoch gerade ein Katholik (Professor Karlheinz Müller) und ein Protestant (Albrecht Fürst zu Castell), die entscheidend dazu beitrugen, dass die jüdische Gemeinde in Würzburg, die einzige Unterfrankens, 2006 das neues Gemeinde- und Kulturzentrum "Shalom Europa" eröffnen konnte.
Die fragile Gegenwart
Auch heute ist der Boden, auf dem sich so etwas wie Normalität entwickelt, allerdings noch brüchig. Vor "Shalom Europa" sind, wenn Gottesdienst ist, bewaffnete Polizisten postiert. Die Idee, dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt, ist unter Rechten und Corona-Leugnern weit verbreitet, wie sich unter anderem an der Internet-Kommunikation der Chatgruppe "Eltern Stehen Auf Würzburg" zeigte. Von einem "System, das seit Jahrzehnten uns versklavt", war hier die Rede, von "Rothschilds" und "Zionisten".
Josef Schuster, der Vorsitzende der Würzburger Kultusgemeinde und Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, beklagt, dass sich judenfeindliche Ressentiments über Jahrhunderte gehalten haben. Ein Beispiel: Anhänger der Verschwörungsideologie "Qanon" glauben an eine geheime Fremdherrschaft und an unsichtbare (vor allem jüdische) Lenker, die Kinder entführen, missbrauchen, töten und ihr Blut trinken.
Junge Menschen als Opfer von skrupellosen Juden – der Kreis zum Würzburger Pogrom des Jahres 1147 und zum angeblichen "Ritualmord" von Manau hat sich geschlossen.
Immer wenn etwas schief läuft oder wenn Menschen sich ein Unglück nicht erklären können (oder wollen), sind für viele die Juden schuld. Heute wie im Mittelalter.
Der Autor: Dr. Roland Flade ist Historiker und Anglist und war bis zum Ruhestand 2017 Redakteur der Main-Post. Er hat über die Geschichte der Würzburger Juden promoviert. 1983 erschien im Pupille-Verlag sein erstes Buch mit dem Titel „Es kann sein, dass wir eine Diktatur brauchen. Rechtsradikalismus und Demokratiefeindschaft in der Weimarer Republik am Beispiel Würzburg“. Seitdem hat er zahlreiche Bücher zur Würzburger Zeitgeschichte veröffentlicht.