Es ist alles in allem ein Buch, das von der ganz persönlichen Liebe zum Leben zeugt. Das mag angesichts von Joske Erelis Vita erstaunen. Aber obwohl der gebürtige Kissinger Jude den Hass der anderen in der Jugend schmerzlich spürte, obwohl Flucht und Krieg den jüdischen Emigranten zeitlebens umtreiben, sind in seinen Erzählungen stets Optimismus für die Zukunft und eine gewisse Grundgütigkeit zu spüren. Eindrucksvoll schildert er die behütete Kindheit der 1920er Jahre im Kreis seiner Kissinger Großfamilie. Aber er beschreibt auch die für ihn verstörenden Anfänge des Nationalsozialismus, die er noch in der Kurstadt erfühlte und erlebte.
Als er mit 17 Jahren nach Palästina flüchten soll, ist das für ihn, der eigentlich „deutsch“ fühlt, denkt und spricht, wie ein Sprung ins Ungewisse. Doch er muss ja Abschied nehmen. Er findet sich schließlich auch in dem zunächst fremden Land zurecht. Und dann beginnt er, seine Lebensroute aus dem unsicheren Fundament seiner bisherigen Existenz herauszuhöhlen. Freiwillig meldet er sich Anfang der 1940er Jahre zum Palmach, einer paramilitärischen Institution, die vor allem junge Leute ausbildet. Als er dort Rachel kennenlernt, und beide 1943 heiraten, nimmt sein Dasein für ihn ganz offensichtlich wieder eine glücklichere Wendung.
Erelis Blick zurück ist ohne Zorn. Freundlich, ja oft belustigt, blickt er auf die 1920er Jahre zurück, als er – damals noch Hampi, das Nesthäkchen genannt – in Bad Kissingen mit seiner Schwester Suse und Bruder Felix unbeschwerte Tage verlebt. Die Familie ist hier sehr angesehen, aber offenbar gemäßigt konservativ, was den Kindern auch einen gewissen persönlichen Freiraum gibt.
Der kleine Hampi will Seemann werden. Das erfüllt sich zumindest in der Form, dass die Familie in den Ferien an die Nordsee fährt. Im Winter geht's zum Skifahren nach Südtirol. Hie und da flicht Ereli Anekdoten ein. So ist es beispielsweise im Hause Ehrlich Usus, dass eines der Kinder vor dem Mittagessen mit einer Karaffe zum Maxbrunnen geht und Wasser holt. Das schmeckte damals sehr gut, schreibt Ereli. Als er es später, in den 1980ern beim Besuch in der Kurstadt, wieder probiert, findet er es „grauenhaft“. „Ich konnte nicht glauben, dass wir dieses Wasser früher jeden Tag getrunken hatten.“
Erst viel später erfährt Ereli mehr über die Wurzeln seiner Familie: 1726 ist der Name Ehrlich erstmals in den Büchern belegt. Im Jahr 1841 erhält Samuel Ehrlich vom Gericht durch Erlass des Bayerischen Königs die Genehmigung für einen Stoffhandel. Er eröffnet ein „Textilwaaren- und Damenconfectionsgeschäft“ im Haus Schmirdorfer in der Oberen Marktstraße. 1882 übergibt Erelis Urgroßvater das Geschäft seinem Sohn Felix, der später sogar zum Königlich-Bayerischen Hoflieferanten aufsteigt.
1887 kaufte Felix Ehrlich dann ein zweistöckiges Gebäude an der Ecke Kurhaus-/Ludwigstraße und eröffnet dort das „Handelshaus Felix Ehrlich“. Als der Großvater 1918 stirbt, erben Ludwig Ehrlich und sein Bruder Franz das Unternehmen, das zu den großen Geschäften in der Stadt gehört. Erelis Tante Adele, die in Frankreich Maßschneiderin gelernt hatte, leitet im Modehaus eine Gruppe von sieben Näherinnen an. Die Kundschaft kommt aus der ganzen Welt: Gäste aus Europa, Amerika, Rußland und Asien kaufen bei den Ehrlichs ein. Es versteht sich von selbst, dass man da als Kaufmann auch jederzeit Englisch und Französisch sprechen muss. 1912 wird das Ehrlich-Haus um eine Etage mit Wohnungen aufgestockt, da sich die Familie vergrößert hatte.
Fast wie ein neutraler Beobachter erzählt Ereli in seinem Buch aus der Ära, in der die Nazis die Herrschaft an sich rissen: Für ihn ist die Hetze gegen die Juden unverständlich, denn seine Familie ist ja der Ansicht, sie habe in Bad Kissingen „Etliches geleistet“. Die Ehrlichs fühlen sich „deutsch“, schließlich hatten die Anverwandten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Wenn Ereli die Schikanen schildert, denen seine und andere jüdische Familien in Bad Kissingen ausgesetzt waren, gibt er dies aus der Sicht des damaligen Kindes wieder: Es wurde ein „Judenschild“ vor dem Geschäft aufgehängt und in die Schaufenster „koscher“ eingeritzt. Später wurden die Schlösser blockiert, so dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Es gibt auch 1934 immer noch Menschen, die bei den Ehrlichs einkaufen, manche kommen über den Hintereingang. „Doch es lag ein Gefühl von Demütigung in der Luft“. Am 19. August 1935 kommt es zum Gewaltakt gegen jüdische Geschäftsleute: Man zertrümmert Schaufenster und verwüstet Läden.
Dennoch sind in all den Schilderungen Erelis über Aufstieg und Niedergang der angesehenen Familie, über die mutmaßliche Vernichtung einzelner Verwandter durch die Nazis weder Wut noch Hass zu spüren. Selbst die Eltern scheinen damals zu tolerieren, was eigentlich kaum erträglich ist: dass sie ihr Geschäft 1938 gegen einen Schleuderpreis an einen gewissen Rottmann abgeben müssen, wie ein Brief an ihre Geschwister belegt: „Grete und ich sind sehr ruhig, wir wissen, es war nichts anders zu machen und je eher, je besser, ist bestimmt immer richtig.“
Immer wieder versetzt sich Ereli in seiner Biografie in den Jugendlichen von damals hinein, der zu verstehen versucht, was vor sich geht: Dass christliche Freunde „praktisch über Nacht“ nicht mehr mit ihm reden und er zum „Ausgestoßenen“ wird. Dass er plötzlich aus der Realschule hinausgeworfen wird. Dass man ihn warnt sich von Straßenumzügen junger Leute fernzuhalten, weil die „gefährlich“ für ihn sein könnten. Jeden Samstag veranstaltet die Hitlerjugend nämlich inzwischen einen Parademarsch durch Bad Kissingen. Er steht dann immer am Fenster und weint, weil er nicht mit darf. „Erst später hab ich dann gewusst, was die da machten“.