
Hilla Schütze ist spürbar bewegt, wenn sie von dem bevorstehenden Ereignis in den USA spricht: Am 2. Dezember wird es für ihren Vater, den früheren Bad Kissinger Arzt Hermann Schütze, im US-Bundesstaat New Hampshire eine besondere Gedenkveranstaltung geben.
Im Kingswood Arts Center von Wolfeboro, einer Kleinstadt im Nordosten der USA (Neuengland), geht es dann vor geladenen Gästen um das Schicksal ihres Vaters, eines deutschen Soldaten, der nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg nach Bad Kissingen zurückkehrte.
Amerikanische Freunde in der Bad Kissinger Nachbarschaft
Wie das alles zustande kam, ist eine interessante Geschichte, in der es um Sehnsucht und Erinnerungen, um Verlust und Trauer, aber auch um Dankbarkeit und Freude geht. Die Hauptrolle spielen dabei in gewissem Sinn die Skier von Hilla Schützes Vater, die noch lange Zeit auf dem Dachboden ihres Elternhauses standen, erzählt die Bad Kissingerin im Gespräch mit dieser Redaktion. 2008 nahm sie ein Freund aus der Bad Kissinger Nachbarschaft, Dr. Steven Reinfurt, mit in die USA, weil er von dem Schicksal des Bad Kissinger Arztes und seiner Familie tief berührt war.
Hermann Schütze wurde 1939 im Alter von 31 Jahren zum Wehrdienst einberufen. Zuhause ließ er seine Mutter Leo (55), seine Frau Wiltrud (27) und die einjährigen Zwillinge Hilla und Manfred zurück. Eingesetzt war Schütze in Frankreich. Zwischendurch war er eine Zeitlang in Giebelstadt bei Würzburg als Stabsarzt tätig und wurde später an die Ostfront versetzt. Ein paarmal war der Vater auf Heimaturlaub in Bad Kissingen gewesen, erzählt Hilla Schütze.
1943 starb ihre Mutter Wiltrud an einer seltenen Blutkrankheit. Ihr Vater kehrte nicht mehr aus dem Krieg heim und galt als verschollen. Spätere Nachforschungen ergaben, dass er 1943 an der Ostfront in ein Gefecht geraten war und im August 1944 das letzte Mal von einem Kameraden gesehen wurde, weiß Hilla Schütze heute.

Nach dem Krieg war ihre Großmutter, die mit Spitznamen "Leo" genannt wurde, also in Bad Kissingen mit ihren beiden fünfjährigen Enkeln auf sich selbst gestellt. "Und sie hat für uns auch gekämpft wie eine Löwin", umreißt die 84-Jährige die schwierige Lebensführung der Nachkriegszeit in Bad Kissingen, in der man zuschauen musste, dass es täglich etwas zu essen gab.
Als etliche Bad Kissinger in Notunterkünften lebten
Für viele war es einschneidend, dass sie von den Besatzern ausquartiert wurden. So hatten die Amerikaner im Mai 1945 auch das Haus der Schützes in der Prinzregentenstraße beschlagnahmt. Dreimal hatten ihre Großmutter, ihr Bruder und sie in den Folgejahren umziehen müssen, von Notunterkunft zur Notunterkunft, von der Schönbornstraße in die Landwehrstraße und dann in die Erhardstraße.
Für ihre Großmutter sei das eine große und lang anhaltende Anstrengung gewesen, sagt Hilla Schütze. Erst im Winter 1956 durften die drei wieder in ihr Haus zurück. 1957 starb die Großmutter, doch die Zwillinge blieben im Elternhaus. Die Wohnung im Obergeschoss war immer wieder vermietet worden. 1990 hatte sich bei den Geschwistern dann eine amerikanische Familie vorgestellt, die schließlich auch einzog: Dr. Steven und Gloria Reinfurt mit ihren beiden Töchter Shara und Sirahna.
"Es entstand eine intensive Freundschaft", sagt Hilla Schütze. Irgendwann habe Steve Reinfurt die Skier ihres Vaters auf dem Dachboden entdeckt, ein Paar sogenannte Allgäu-Ski. Diese Marke wurde ab 1928 in Augsburg hergestellt. Sie waren aus Holz und hatten noch die einst üblichen Metallkanten an den Kufen und Lederriemen als Schnürung.

Als die Reinfurts dann im Jahr 2008 mit den Töchtern in die USA umsiedelten - heute leben sie in Strafford/New Hampshire - kam die Rede noch einmal auf die Skier am Dachboden in Bad Kissingen. Was sie mit denen machen werde, habe Steve sie seinerzeit gefragt, erzählt Hilla Schütze. Sie werde sie aufheben oder an Freunde verschenken, habe sie erwidert. Worauf Reinfurt sie zur Erinnerung an Deutschland mit nach Amerika nahm.
Feierliche Zeremonie in Wolfeboro/New Hampshire geplant
Vor zwei Jahren hatte Steve ihr mitgeteilt, dass er jetzt endlich einen würdigen Platz für die Skier ihres Vaters gefunden habe. Er wollte sie dem Skizentrum in der Ski Abenaki Area in Wolfeboro übergeben. Dort könnten sie als Schmuck über dem Kamin dienen, hatte Steve sich ausgedacht. Doch das war mitten in der Corona-Pandemie gewesen, erzählt die 84-Jährige. Die Ausführung des Plans dauerte noch eine Zeitlang.

Jetzt, zwei Jahre später, ist es soweit. Am 2. Dezember 2023, zwischen 14 und 16 Uhr, sollen im Kingswood Arts Center von Wolfeboro die Mitglieder des Abenaki Race Teams und deren Angehörige, eine Fahnenabordnung des US-Militärs, Bürgerinnen und Bürger der Stadt sowie Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Funk und Fernsehen zusammenkommen, um Hermann Schütze die Ehre zu erweisen, schrieb Steve Reinfurt vor kurzem in einer E-Mail an Hilla Schütze.
Möglicherweise wird auch ein Abgeordneter aus New Hampshire an den Feierlichkeiten teilnehmen, hieß es. Sogar an die Deutsche Botschaft sei eine Einladung ergangen. Auch Reinfurt selbst will einen Vortrag halten, bei dem die Familiengeschichte von Hilla Schütze, ihrem Bruder Manfred und ihrer Großmutter einen gebührenden Platz einnehmen sollen.
Eine Rolle wird bei der Feierlichkeit zudem das von Hilla Schütze 2019 selbst zusammengestellte kleine Büchlein "Nur für Dich!" spielen. Denn damals, als Hermann Schütze im Krieg war, verfassten seine Mutter und seine Frau zum Weihnachtsfest kleine Alltagsgeschichten, Gedichte und bunte Zeichnungen, in denen sie dem Vater von sich und vor allem von den beiden Kindern berichteten.
Es waren gelochte Einzelblättern, die in vier Teilen als Feldpost zu Schütze nach Frankreich gingen. Als Dr. Schütze später in Giebelstadt war, brachte er das Büchlein mit heim, damit es nicht verloren geht, sagt Hilla Schütze. Es sei lange Zeit in der Familie unter Verschluss geblieben. Doch dann habe sie sich eines Tages entschlossen, es zu veröffentlichen – nicht zuletzt im Gedenken an ihre Großmutter. Schütze: "Denn sie hat uns eine wunderbare Kindheit beschert."

"Ich finde es rührend und absolut liebenswert, dass Steve diese Idee hatte und sich so viel ausgedacht hat, um meinem Vater Ehre zu erweisen", sagt Hilla Schütze. Natürlich sei das Ganze auch irgendwie "typisch Amerikanisch". Denn die Amerikaner verstünden es, aus kleinen Ereignissen auf ihre unbekümmerte Art große Events zu machen.
Nachforschungen zu Dr. Hermann Schütze im Bundesarchiv
Spannend findet Hilla Schütze, dass Steve Reinfurt großen Wert darauf legt, einen Deutschen in den USA zu ehren. Zuvor sei allerdings überprüft worden, dass Hermann Schütze kein Nazi war, erzählt die 84-Jährige. Reinfurt habe dazu im Bundesarchiv Berlin Nachforschungen angestellt und sei fündig geworden.
Heraus kam Folgendes: Dr. Schütze war 1943 an die Ostfront geschickt worden und war in eine groß angelegte sowjetische Offensive geraten, die er überlebt hatte. Nach dieser Schlacht konnte er nach Litauen entkommen. Doch seit einem weiteren Kampf einen Monat später galt er als verschollen.
Hilla Schütze ist auf die Veranstaltung am 2. Dezember gespannt. Doch am meisten beschäftigt sie in diesen Tagen die immer gleiche Frage: "Was würde wohl mein Vater zu all dem sagen?"