Sammlerstolz bricht mitten in der Ausstellungseröffnung in der Bad Neustädter Stadthalle aus Erich Fries hervor. „Den hab‘ ich ganz neu“, eilt er zu Stellwand 89 und freut sich, dass er durch beharrliches Nachforschen auf die Geschichte des Burgläurers Eugen Reininger gestoßen ist. Wie zwei andere aus seinem Heimatort im Landkreis Rhön-Grabfeld, die bei den Dokumenten von Erich Fries schon einen würdigen Platz eingenommen hatten, kam Reininger bei der Kapitulation der 6. Armee zusammen mit 108 000 deutschen Soldaten am 2. Februar 1943 in Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft. Er gehörte zu den 6000 Männern, die die unmenschlichen Bedingungen dieser Zeit überlebten, und kehrte im Oktober 1949 heim.
Das Kostbarste in der Zeit der quälenden Ungewissheit
Die Freude darüber war in seinem Ort so groß, dass ihn die Blasmusik nach Hause spielte. Aufgehoben hat seine Familie das Kostbarste, das es in der Zeit der quälenden Ungewissheit geben konnte: die Lebenszeichen von ihm. Eine Feldpostkarte aus dem Kessel von Stalingrad, abgeschickt zu Weihnachten 1942, und Karten aus dem Kriegsgefangenenlager Saratow an der Wolga.
Was er im Einzelnen schrieb, lässt sich heute nur mit Mühe entziffern, aber allein das Bewusstsein der Gesamtsituation jagt dem Betrachter einen Schauer über den Rücken. „Stalingrad im Spiegel der Feld- und Kriegsgefangenenpost“ – darum geht es in dieser Ausstellung der Briefmarkenfreunde Bad Neustadt.
Und der 67-jährige Sammler Erich Fries wird nicht müde, das Schicksal jedes einzelnen Schreibers in Erläuterungen zu den Briefen oder Karten darzustellen und manchmal – wie im seltenen Fall von Eugen Reininger – bis zu seinem natürlichen Tod zu verfolgen. Bekommt der Sammler einen Feldpostbrief durch Mundpropaganda oder Internetsuche, beginnt die akribische Recherche. Zu welchem Truppenteil gehörte der Soldat? Wo befand er sich im Kessel von Stalingrad? Und welchen Weg nahmen seine Zeilen an die Lieben daheim?
Im Haus der Schwiegereltern auf 150 Karten gestoßen
Seit 30 Jahren geht Fries diesen Fragen nach und er hält damit die Erinnerung an ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte wach. Diese Aufgabe hat er sich gewissermaßen „angeheiratet“. Denn als er vor 46 Jahren aus seinem Geburtsort Burglauer ins Elternhaus seiner Frau nach Großwenkheim im Landkreis Bad Kissingen kam, stieß er auf 150 Karten aus dem Ersten Weltkrieg, die sein Interesse an Feldpost weckten.
Fortan beschäftigte er sich mit Militärbriefen aus verschiedenen Kriegen der vergangenen Jahrhunderte. Der Schwerpunkt Stalingrad kristallisierte sich dann im Laufe der Zeit wiederum aus familiärem Hintergrund heraus: Der Vater von Erich Fries war der verlustreichen Schlacht entgangen, weil er bei der Heeresteilung im Juli 1942 nicht an die Wolga, sondern in den Kaukasus geschickt worden war – und damit größere Überlebenschancen hatte.
Unter den Geschichten, die die zahllosen Feldpostbriefe erzählen, gibt es eine, die Erich Fries ganz besonders berührt: die von Oberleutnant Dietrich Muthesius. Er wurde im Dezember 1942 aus Stalingrad ausgeflogen, damit er kurz vor Weihnachten heiraten konnte. Seine junge Frau schenkte ihm zum Abschied eine warme Mütze und Handschuhe, die sie wenig später in der Wochenschau entdeckte, als dort ein Lagebericht aus Stalingrad gesendet wurde. Eine Ehe führen konnten die beiden viele Jahre nicht, denn Muthesius wurde erst 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und lebte später in Nordrhein-Westfalen.
Hunger, Kälte, Sehnsucht nach der Heimat
Dort kreuzten sich die Wege mit dem Sammler aus Großwenkheim. Denn Erich Fries besuchte in der Vor-eBay-Zeit gerne Tauschtage, um Ausschau nach Feldpostbriefen zu halten und fuhr dafür auch nach Essen oder nach München. In vielen Fällen lässt sich nicht nur nachvollziehen, wie die Soldaten vor Stalingrad unter Hunger, Kälte und Sehnsucht nach zu Hause gelitten haben, sondern auch von den Kümmernissen daheim kann man noch viel erfahren. Weil im Feld keine Möglichkeit der Aufbewahrung bestand, wurden die Briefe an die Front nach dem Lesen wieder eingesammelt und an den Absender zurückgeschickt.
Allzu oft enthielten die Umschläge dann aber auch den Vermerk „vermisst seit 1. Januar 1943“.
„Vermisst seit 1. Januar 1943“
„Dieses Datum wurde generell bei allen verwendet, bei denen nicht genau nachzuvollziehen war, wann die Soldaten gefallen sind“, sagt Fries. Für die Angehörigen bedeutete eine solche Nachricht oft den Beginn einer noch viel quälenderen Ungewissheit als zuvor. Nachforschungen über das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen setzten nach dem Krieg ein, brachten meist die tödliche Gewissheit oder verliefen ohne Ergebnis.
So weiß Gisela Keßler aus Langenleiten (Landkreis Rhön-Grabfeld) bis heute nicht, wohin sich die Spur ihres Vaters von Stalingrad aus verloren hat. Auch 75 Jahre nach dieser mörderischen Schlacht hofft sie immer noch auf eine erlösende Antwort auf ihre Schicksalsfrage. Aus diesem Grund studierte sie die Feldpostbriefe in der Ausstellung und kann nun mit der kompetenten Suchunterstützung sowohl von Erich Fries als auch von Oliver Bauer, dem Geschäftsführer des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge, Bezirk Unterfranken, rechnen.
Feldpost aus dem Kessel von Stalingrad
In erster Linie richtet Erich Fries sein Augenmerk auf die Dokumentation des Geschehens von Stalingrad. So stellt er die Feldpost mit Skizzen, Fotos und Erläuterungen in den Gesamtkontext des Schlachtverlaufs. Aber damit sieht der Großwenkheimer Obergefreite der Reserve seine Aufgabe noch nicht als beendet an. Er engagiert sich in der Reservistenkameradschaft, sammelt für den Volksbund und beteiligt sich aktiv an der Pflege der Soldatenfriedhöfe.
Folgerichtig war auch dieser Bereich in die Bad Neustadter Ausstellung mit eingebunden und profitiert von ihr. Denn die Spenden in Höhe von 660 Euro werden für den Soldatenfriedhof Rossoschka in der Nähe des heutigen Wolgograd verwendet. 103 000 deutsche Namen sind dort Mahnung für eine friedliche Gegenwart.
Es verwundert nicht, dass Erich Fries einige dieser Namen vertraut sind und er sagen kann, dass in Würfel 85, Platte 20, der Schriftzug Otto Schwing eingemeißelt ist.
Von dem jungen Lehrersohn aus Wermerichshausen (Landkreis Bad Kissingen) weiß die Familie, dass sich der Bürgermeister noch mit einem Schreiben an die Einheit dafür eingesetzt hatte, dass Schwing für ein Studium freigestellt werde – leider erfolglos. Am 10. November 1942 wurde dem Wermerichshäuser in Stalingrad noch das Eiserne Kreuz verliehen, dann ist der 1. Januar 1943 auch für ihn der letzte Lebensbezug.
Äußerst selten gaben die Soldaten übrigens in ihren Feldpostbriefen eine Einschätzung der militärischen Lage ab, denn sie mussten die Zensur fürchten. Wurden regimefeindliche Bemerkungen entdeckt, hatte das empfindliche Strafmaßnahmen zur Folge, selbst mit Erschießen musste gerechnet werden. Rund drei Wochen war die normale Feldpost unterwegs, die Luftpost kam mit einem Drittel der Zeit aus. Jeder Soldat erhielt vier Marken im Monat, meist steckte er zwei davon in den Umschlag, damit die Angehörigen antworten konnten.
Insgesamt 4,7 Millionen Einzelsendungen gingen von der Heimat in den Kessel von Stalingrad, 2,9 Millionen Briefe nahmen den umgekehrten Weg, verraten die umfangreichen Unterlagen von Erich Fries. Der letzte Brief, der Stalingrad verließ, trägt den Stempel vom 23. Januar 1943.