
In Deutschland ist jeder vierte Arbeitnehmer im Laufe seines Berufslebens von Erwerbsminderung betroffen. Das bedeutet, dass er oder sie die Erwerbstätigkeit vorzeitig einschränken oder sogar ganz aufgeben muss. Vor 30 Jahren galt starke körperliche Belastung als Hauptursache für Berufsunfähigkeit. Laut Carsten Vetter, Bezirksgeschäftsführer des Sozialverbands VdK für Unterfranken, sind psychische Krankheiten wie Depressionen und Burnout sowie Schmerzerkrankungen mittlerweile die häufigsten Gründe für eine Erwerbsminderung.
Wie ist man staatlich abgesichert, wenn man krank wird und nicht mehr arbeiten kann? Wer bekommt überhaupt eine Erwerbsminderungsrente? Und was ist, wenn man nach einer Corona-Infektion nicht mehr arbeiten kann? Antworten geben VdK-Bezirksgeschäftsführer Carsten Vetter und Peter Fersch, Kreisgeschäftsführer in Kitzingen.
Was sind die Hauptgründe, warum Menschen früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden?
Carsten Vetter: Früher lagen tatsächlich die orthopädischen Erkrankungen vorne, gefolgt von Herz- Kreislauf-Erkrankungen. Viele dieser Krankheiten sind heute besser therapiebar, zum Beispiel durch künstliche Gelenke. Die Arbeitswelt hat sich stark verändert, der Stress ist mehr geworden. Heute gibt es viel mehr Menschen, die aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht mehr arbeiten können. Oft kommen auch mehrere Erkrankungen zusammen.
Peter Fersch: Gerade bei Erwerbsminderung aufgrund von psychischen Erkrankungen ist die Deutsche Rentenversicherung sehr streng. Es wird gefordert, dass sämtliche Therapieformen, auch medikamentöse Behandlungen und Psychotherapien, ausgeschöpft sind, bis eine Erwerbsminderungsrente genehmigt werden kann. Leider wartet man auf einen Therapieplatz bei psychischer Erkrankung oft sehr lange.
Gibt es auch in Unterfranken immer mehr Frühverrentungen nach Post Covid?
Fersch: Bei einer Frühverrentung spielen die individuellen Einschränkungen einer Person eine entscheidende Rolle, nicht die zugrundeliegende Krankheit. Es ist also nicht die Diagnose selbst, sondern vielmehr die noch mögliche Arbeitszeit ausschlaggebend. Die Problematik der Fatigue ist nicht neu und tritt zum Beispiel auch nach anderen Infektionskrankheiten oder einer Krebserkrankung auf. Beim Sozialverband VdK haben wir regelmäßig mit solchen Fällen zu tun.
Welche Hauptprobleme gibt es bei Anträgen auf eine Erwerbsminderungsrente?
Vetter: Ärzte beschäftigen sich naturgemäß eher mit Diagnosen und weniger damit, wie sich diese auf das Leistungsvermögen auswirken. Bei der Rente geht es jedoch in erst Linie um Leistungseinschränkungen - und diese müssen in den Arztbriefen konkret formuliert werden. Es wäre wichtig, bei Ärztinnen und Ärzten ein größeres Bewusstsein dafür zu schaffen.
Wie ist man überhaupt abgesichert, wenn man krank wird oder einen Unfall hat?
Vetter: In den ersten sechs Wochen einer Erkrankung gibt es in der Regel eine Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber. Nach sechs Wochen Krankheit übernimmt die Gesetzliche Krankenkasse die Zahlung des Krankengeldes. Das Krankengeld bekommt nur, wer sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist. Diese soziale Leistung wird für maximal 72 Wochen bei festgestellter Arbeitsunfähigkeit gewährt und beträgt höchstens 90 Prozent des bisherigen Nettoeinkommens. Ein Selbstständiger ohne gesetzliche Krankenversicherung, der sich nicht zusätzliche abgesichert hat, bekommt kein Krankengeld.
Wer hat Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente?
Vetter: Wer täglich nur noch weniger als sechs Stunden leistungsfähig ist, kann eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragen. Eine EM-Rente erhält nur, wer mindestens fünf Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Außerdem muss man in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge eingezahlt haben. Wer zum Beispiel aufgrund einer selbstständigen Tätigkeit oder einer Familienauszeit längere Zeit keine Beiträge in die Rentenkasse zahlt, verliert unter Umständen seinen Anspruch.

Muss man einer Reha-Maßnahme zustimmen, bevor man in Rente gehen kann?
Fersch: Eine Reha ist eine intensive Behandlung, die im Sinn hat, den Gesundheitszustand zu verbessern oder wiederherzustellen. Im Sozialrecht gilt der Grundsatz "Reha vor Rente". Das heißt, es müssen alle für den Betroffenen in Frage kommenden Reha-Maßnahmen ausgeschöpft sein - erst dann wird meist eine Rente bewilligt.
Wie stellt man einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente?
Vetter: Der VdK bietet bereits vorab ein Beratungsgespräch an. Wichtig für die Durchsetzung eines Antrags ist, dass Krankheiten dokumentiert sind und Behandlungen von einem Facharzt durchgeführt werden.
Heute ist es oft schwer, einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen. Was tun?
Fersch: Wir sehen in unseren Beratungsstellen immer wieder Menschen, die sehr lange auf Arzt- und auch auf OP-Termine warten mussten und deren Erkrankung sich dadurch manifestiert hat. In solchen Fällen können wir als VdK nichts tun. Wir raten den Patienten, sich an die Krankenkassen zu wenden.
Was kann man tun, wenn der Rentenantrag abgelehnt wird?
Vetter: Fast jeder zweite Antrag scheitert zunächst. Mit Hilfe eines Experten können Sie Widerspruch einlegen und gegebenenfalls auch Klage vor dem Sozialgericht einreichen. Für den Widerspruch hat man eine Frist von einem Monat. Seitens der Behörden und Gerichte ist dieses Verfahren kostenfrei. Vor Gericht gelingt es oft, Gutachten von unabhängigen Sachverständigen zur Frage der Leistungsfähigkeit zu erreichen. Nicht selten wird die beantragte Rente dann doch bewilligt.
Sozialverband VdK
Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag lag bei 972 Euro (bei Männern 1011 Euro, bei Frauen Frauen 938 Euro).