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Würzburg
Erwerbsminderungsrente: Fast jeder zweite Antrag scheitert
Wer zu krank zum Arbeiten ist, bekommt eine Erwerbsminderungsrente. Oder? Tatsächlich wird nur gut die Hälfte der Anträge genehmigt. Warum ist das so?
Nach einer Beckenvenenthrombose kann Thomas Meier heute nicht mehr arbeiten. Er bezieht seit zwei Jahren eine Erwerbsminderungsrente. (Das Bild dient nur als Symbol).
Foto: Stephan Jansen, dpa | Nach einer Beckenvenenthrombose kann Thomas Meier heute nicht mehr arbeiten. Er bezieht seit zwei Jahren eine Erwerbsminderungsrente. (Das Bild dient nur als Symbol).
Claudia Kneifel
 |  aktualisiert: 12.09.2022 15:02 Uhr

Seit dem 5. Juli 2016 ist bei Familie Meier, die in Wirklichkeit einen anderen Namen hat, nichts mehr wie es vorher war. An diesem Tag ist Thomas Meier kurz nach dem Aufstehen einfach umgefallen. Beckenvenenthrombose. Er erlitt einen Kleinhirninfarkt, wurde ins künstliche Koma versetzt. Intensivstation. Heute ist der 40-Jährige halbseitig gelähmt und ein Pflegefall. Mühsam hat er sich ins Leben zurückgekämpft. "Keiner hat erwartet, dass er wieder laufen wird", sagt seine Frau. Thomas Meier musste sogar das Atmen und Schlucken erst wieder lernen.

Arbeiten kann der 40-Jährige nicht mehr. Er bekommt eine Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) in Höhe von 986 Euro. "Meine vierköpfige Familie könnte ich davon nicht ernähren", sagt er. Zum Glück hatte er eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. "Das ist eine der Versicherungen, von denen man hofft, dass man sie nie braucht", sagt er. Wenn der schlimmste Fall dennoch eintritt, ist es oft gar nicht einfach, eine EM-Rente zu bekommen.

Fast jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Von den rund 350 000 neuen Anträgen auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente im Jahr 2017 wurden 43 Prozent abgelehnt. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechendeAnfrage der Linken im Bundestag hervor. Im Jahr 2016 lag die Ablehnungsquote bei 42,4 Prozent, seit dem Jahr 2001 durchgehend bei über 40 Prozent. Für Carsten Vetter, Bezirksgeschäftsführer beim Sozial­verband VdK in Würzburg, ist das nicht überr­aschend. "Es ist sehr schwierig, eine Erwerbsminderungs­rente zu erhalten", sagt er. Aber woran liegt es, dass fast jeder zweite Antrag auf eine EM-Rente abgelehnt wird?

Carsten Vetter ist Bezirksgeschäftsführer des Sozialverbands VdK in Würzburg. Der VdK ist mit fast 1,9 Millionen Mitgliedern der größte Sozialverband Deutschlands.
Foto: Patty Varasano | Carsten Vetter ist Bezirksgeschäftsführer des Sozialverbands VdK in Würzburg. Der VdK ist mit fast 1,9 Millionen Mitgliedern der größte Sozialverband Deutschlands.

Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, regelmäßig einer Erwerbstätigkeit im Umfang von täglichen sechs Stunden nachzugehen, hat Anspruch auf eine EM-Rente. Dies prüft die Rentenversicherung anhand der vorliegenden ärztlichen Unterlagen. "Ergänzend können medizinische Fachgutachten und Befundberichte angefordert werden", sagt Dirk Manthey, Pressesprecher der Deutschen Rentenversicherung Bund. Im Ergebnis der Prüfung kann es zu unterschiedlichen Einschätzungen des Gesundheitszustandes und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit zwischen Antragsteller und Rentenversicherung kommen.

Was tun, wenn der Antrag abgelehnt wurde?

Für die Betroffenen sei es erstmal ein Schock, wenn der Antrag auf die EM-Rente abgelehnt wurde, sagt Vetter. "Nun heißt es, einen kühlen Kopf zu bewahren und den Ablehnungsbescheid genau durchzulesen", rät er. Hauptablehnungsgrund sei meist, dass medizinische Gutachten nicht so ausfallen, wie es sich die Antragsteller erwartet haben. Der VdK, Gewerkschaften oder Fachanwälte können helfen, Widerspruch einzulegen und gegebenenfalls den Rentenanspruch vor dem Sozialgericht einzuklagen.

"Jeder kann sich vor Gericht und auch gegenüber der Behörde alleine vertreten, es herrscht kein Vertreterzwang", sagt Vetter. Allerdings habe man schneller Erfolg, wenn man einen Profi an der Seite hat. Der VdK hat im Jahr 2018 allein in Unterfranken über 20 000 Mitglieder in Sachen gesetzlicher Rentenversicherung beraten, 13 000 in Sachen Rehabilitation. In über 800 Fällen klagte der VdK Rentenansprüche vor dem Sozialgericht in Würzburg ein. Gestritten wird vor Gericht über Rentenhöhe, Rentenbeginn bei Altersrenten oder Hinterbliebenenrenten, Übergangsgeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung und eben auch Erwerbsminderungsrenten, bestätigt Christiane Rohrmoser, Richterin am Bayerischen Landessozialgericht.

Reha-Behandlung eingeklagt

Auch Thomas Meier musste vor dem Sozialgericht klagen. Ihm wurde die Reha-Behandlung verweigert. "Die Rentenversicherung gewährt eine Reha nur, wenn derjenige wieder fit für den Beruf gemacht wird", sagt Meier. Bei ihm stehe es noch in den Sternen, ob er jemals wieder arbeiten könne. Ein Jahr lang haben sich die Verfahren hingezogen, bis er dann doch eine Reha-Behandlung bekommen hat. Dort habe er zum Beispiel wieder laufen gelernt, sodass er jetzt fast komplett auf seinen Rollstuhl verzichten kann. "Jede Verbesserung seines Gesundheitszustands kommt uns als Familie zugute", sagt seine Frau.

Besonders für die Kinder der Familie, die heute zehn und sieben Jahre alt sind, sei es immer noch schwer zu begreifen, dass ihr Vater nie wieder so sein wird wie zuvor. "Es gibt viele Dinge, die wir als Familie nie wieder zusammen machen können, wie Fahrradfahren oder Schwimmen gehen." Wenn die Meiers nur von der gesetzlichen Rente leben müssten, wäre es eine Katastrophe, sagen sie. Aber jammern helfe in diesem Fall nicht. "Man braucht Zeit, Geduld und Beharrlichkeit, um das Beste aus seinem Schicksal zu machen", sagt die Frau.

Psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch

Es seien, so VdK-Bezirkschef Vetter,vor allem psychische Erkrankungen, die Menschen zu einem früh­zeitigen Ausstieg aus dem Erwerbs­leben zwingen– vor Rücken- und Krebs­erkrankungen. Und: "Die Menschen, die zu uns in den Verband kommen, werden immer jünger", sagt er. Die Deutsche Renten­versicherung prüft mit eigenen medizi­nischen Gutachtern, ob und in welchem Umfang ein Antrag­steller noch arbeiten kann. Neben den gesundheitlichen Einschränkungen prüft die Rentenversicherung, ob der Antrag­steller vor Rentenantragstellung mindestens fünf Jahre lang in die Rentenkasse einge­zahlt hat.

772 Euro pro Monat beträgt der durchschnittliche monatliche Rentenzahlbetrag wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, laut Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund. Für alle, die ab Januar 2019 eine Erwerbs­minderungs­rente bekommen, erhöht sich die Zurechnungs­zeit auf 65 Jahre und acht Monate. Die güns­tigere Regelung gilt jedoch nur für Neurentner, nicht für diejenigen, die schon eine Rente erhalten. "Es wäre sozialpolitisch wünschenswert, auch die bereits laufenden EM-Renten zu verbessern. Der Koalitionsvertrag sieht eine solche Ausweitung jedoch nicht vor", sagt Marina Küchen, Pressesprecherin im Bundesarbeitsministerium. Diese Entscheidung sei nicht leichtfertig getroffen worden. Die Einbeziehung des Rentenbestands hätte die Kosten um ein Vielfaches erhöht. 

VdK: "Rente muss zum Leben reichen"

Wer vor dem Rentenalter seinen Beruf aufgeben muss, weil die Gesundheit nicht mehr mitmacht, dem droht in Deutschland laut Vetter akute Armut: "Er oder sie rutscht in vielen Fällen unter das Existenzminimum und muss von Grundsicherung leben", sagt der VdK-Bezirksgeschäftsführer. Der Anteil der Rentner, die ergänzend Grundsicherungsleistungen erhalten, ist bei Erwerbsminderungsrentnern rund fünfmal so hoch wie unter Altersrentnern. Auf diese Problematik habe die Rentenversicherung in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen. "Der Gesetzgeber hat daher in den letzten beiden Legislaturperioden reagiert und 2014 und 2018 die Absicherung von Erwerbsminderungsrentnern deutlich verbessert", sagt Dirk Manthey von der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Familie Meier versucht indes im Hier und Jetzt zu leben und nicht mehr so viel zu planen. "Wo die Reise bei mir hingeht, weiß noch keiner", sagt Thomas Meier. Aufgeben kommt für ihn nicht in Frage: "Was man nie verlieren darf ist seinen Humor." So will sich Meier weiter zurück ins Leben kämpfen.

 
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Kommentare
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  • flyarcus@gmx.de
    Wir haben einen Hinweis zu Ihrem Kommentar: Handelt es sich bei Renten in unterschiedlicher Höhe wirklich um "Rassismus"? Bitte entsprechend korrigieren!
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  • pmueller55
    Gehen wir mal von einem Einkommen von 3200 Euro aus, so macht das in Rente ca. 1530 Euro / monatlich und als Pension 2296 Euro / monatlich.
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  • pmueller55
    .... denn! Die Rente wird aus der Rentenkasse und die Pension aus der Staatskasse bezahlt. Die maximale Rente liegt zur Zeit bei ca. 2970 Euro / Monat. die Pensionen liegen da in einem ganz anderen Bereich. Das liegt daran, daß die Rente sich aus den Rentenpunkten errechnet. Beamte können nach 40 Dienstjahren mit maximal 71,75 % des Bruttogehalts, das sie während der zwei Jahre vor dem Ruhestand bezogen haben. Bei der Rente sind es zur Zeit ca. 48 %.
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  • 2ostsee
    Interessant wäre einmal ein Vergleich zwischen EM-Rentnern und Beamten und zwar bei der Höhe der Bezüge wie auch bei der Gewährung der Pensionen.
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