
Endlich. Endlich eine Diagnose. Sie ist für den 77-jährigen Patienten zwar nicht erfreulich - er hat eine sehr seltene Darmerkrankung. Aber der Rentner aus Kürnach (Lkr. Würzburg) weiß jetzt wenigstens, woran er ist. Und die Experten an der Würzburger Uniklinik können sich an die richtige Behandlung machen.
Bis der Kürnacher die Diagnose bekam, ist ein dreiviertel Jahr vergangen. Monate voller Ungewissheit, Beschwerden, Erschöpfung. Ende 2022 hatte sich der 77-Jährige matt gefühlt, schwitzte nachts stark. Die Blutwerte, die der Hausarzt überprüfte, waren schlecht. Am Uniklinik Würzburg wollte man ihn nicht behalten. Mit Antibiotika wurde der Senior zunächst stabilisiert, weitere Untersuchungen sollten aber ambulant stattfinden.
Monatelanges Warten auf die richtige Diagnose
Vorübergehend ging es dem 77-Jährigen besser, doch im Lauf des Frühjahrs kehrten die Beschwerden zurück – noch heftiger. Er hatte keinen Appetit mehr, war schwach, verlor Gewicht. "Und keiner wusste, was es ist. Das ist zermürbend", sagt seine Ehefrau.
Dr. Martin Voll, der Kürnacher Hausarzt, schaltete schließlich einen Internisten ein. Weil er insistierte, erhielt sein Patient binnen einer Woche einen Termin. Auch der Facharzt sah schnell, wie krank der 77-Jährige war, und beschleunigte die notwendigen Untersuchungen. Mit den Ergebnissen von Magen- und Darmspiegelung schickte der Internist den Rentner wieder in die Uniklinik Würzburg. Und anhand der vorliegenden Befunde kamen die Ärzte dort der Krankheit auf die Spur. Endlich.
Welche Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen ein erfahrener Hausarzt diagnostiziert
Aber muss das alles so lange dauern? Eine mehrmonatige Leidenszeit bis zur Diagnose, ein "Dahinsiechen", wie es die Frau des Patienten beschreibt? Es sei kein Einzelfall, sondern "fast Alltag", sagt Martin Voll, Hausarzt aus Überzeugung und seit 30 Jahren mit eigener Praxis am Ort.
Der Allgemeinmediziner, der den Kontakt mit den Patientinnen und Patienten schätzt, ist frustriert. Und bedauert, wie sich das Gesundheitswesen entwickelt hat. "Früher", sagt der 62-Jährige, "hätte man Patienten mit einem unklaren Krankheitsbild in der Klinik aufgenommen und durchgecheckt, bis man die Ursache findet." Heute würden Betroffene wieder heimgeschickt zur Abklärung in den Praxen, das sorge für teils erheblichen Zeitverlust. Wie im Fall des 77-jährigen Patienten.
Bei all dem, macht der erfahrene Allgemeinmediziner vier Problemfelder aus.
1. Die Kliniken: Unter Druck durch das Fallpauschalensystem und Personalknappheit
Das Hauptproblem aus Sicht des Kürnacher Hausarztes: das Fallpauschalensystem. Kliniken stünden unter einem enormen Druck, die Kosten für stationäre Diagnostik und Behandlung ließen sich "nicht eins zu eins abrechnen". Und, sagt Voll, "manche Krankheitszustände werden im Fallpauschalensystem gar nicht berücksichtigt – sind also ein totales Verlustgeschäft".
Personalknappheit, gestiegene Löhne und Inflation würden die Situation verschärfen. Ärzte müssten die Behandlung deshalb oft zuerst streng nach wirtschaftlichen Kriterien ausrichten. Und das hat nach Beobachtung von Hausarzt Voll Folgen: "Vor allem ältere, multimorbide Patienten können nicht mehr ordentlich diagnostiziert und behandelt werden."
Notwendige Diagnostik und Therapie würden, statt straff über einen stationären Aufenthalt, "lieber in den ambulanten Bereich verschoben". Dies bedeute Zeitverzug, Diagnoseverschleppung und im schlimmsten Fall Lebensgefahr.
2. Die stationäre Reha: Sinkende Qualität und schlechtere Versorgung durch Sparkurs
Einen Notstand und sinkende Qualität durch einen rigiden Sparkurs, macht der Allgemeinmediziner auch bei der stationären Rehabilitation und Anschluss-Heilbehandlung in Kliniken aus. Beispiel Krankengymnastik: Statt einer effektiven Einzelbetreuung gebe es jetzt häufig nur Gruppenkurse und Vorträge, statt der Einzelpsychotherapie würden Gruppensitzungen angeboten, "physikalische Therapien werden meist ganz gestrichen". Gerade alte Menschen, klagt der Mediziner, machten während der Reha oftmals Rückschritte und kämen bisweilen schlecht gepflegt und ernährt von dort zurück.
3. Die Hausarztpraxen: Zu viel Bürokratie und fehlende Zeit für Patienten
Die Hausärztinnen und Hausärzte, die gerade ältere Patientinnen und Patienten im ambulanten Bereich versorgen, seien die "Lotsen" im Gesundheitssystem, sagt Voll. "Sie kennen ihre Klientel in der Regel seit vielen Jahren und können gesundheitliche Veränderungen schnell einschätzen". Doch auch in den Allgemeinarztpraxen herrsche mittlerweile ein starker Kostendruck durch steigende Betriebskosten und stagnierende Honorare.
"Durch eine schnell anwachsende, zeitaufwändige und alltagsfremde Bürokratie wird der Personalbedarf in den Praxen immer höher und die Zeit am Patienten immer knapper", klagt Voll. "Kein Wunder also, dass sich kaum mehr jemand für eine Praxisübernahme findet. Viele Hausarztpraxen werden in den nächsten Jahren verschwinden."
4. Die Facharztpraxen: Mehr Selbstzahlerleistungen statt schlecht bezahlte dringende Behandlungen
Immer enger wird es auch in den Facharztpraxen. Wartezeiten auf einen Termin von mehreren Monaten sind heute an der Tagesordnung. Woran dies liegt? "Es steigt einerseits die Nachfrage durch eine älter werdende Bevölkerung und fehlende hausärztliche Kapazitäten", sagt Voll. Demgegenüber stehen Fachärztinnen und Fachärzte, die heute nicht mehr unbegrenzt Überstunden schieben und häufig in Teilzeit arbeiten würden. Dadurch verringert sich die angebotene Sprechstundenzeit.
Weiteres Phänomen, das Voll beobachtet: Eine schlechte Bezahlung in der Kassenmedizin verleite viele Fachärzte dazu, mit Selbstzahlerleistungen (IGEL) ein Zusatzeinkommen zu erzielen. Damit fehle noch mehr Zeit für wirklich dringende Behandlungen.
Wo der Hausarzt mögliche Auswege sieht
Wie könnten all diese Probleme gelöst werden? Hausarzt Martin Voll sagt: "So banal und abgedroschen es klingt: Wir müssen Bürokratie und Verwaltung radikal vereinfachen, wir müssen die Digitalisierung mit Ideen aus den Praxen und Krankenhäusern voranbringen. Und wir müssen uns vor allem als Staat die Frage stellen: Wie viel ist uns unsere Gesundheit wert?"