Diskutiert wird im Journalismus in den USA derzeit noch intensiv, nachdem 19 Kinder und zwei Lehrer im Mai an der Grundschule (Robb Elementary School) von Uvalde erschossen wurden: Sollen künftig, anders als bisher, Fotos von Opfern gezeigt werden? Würde das etwas bewirken? Es geht immerhin um zahllose Massaker, die das Land seit Jahren erlebt, und um den fortwährenden Streit um schärfere Waffengesetze. Hier Aussagen aus den Diskussionen, die unter die Haut gehen können.
Der "Emmett Till Moment"
Oft wird der "Emmett Till Moment" in Feld geführt. Denn die Befürworter der Bildveröffentlichungen von Opfern berufen sich auf das Magazin "Jet". Das hat schon 1955 den misshandelten Körper von Emmett Till, einem 14-jährigen schwarzen Kind gezeigt, das von Rassisten in Mississippi ermordet wurde. Das soll die Bürgerrechtsbewegung beeinflusst haben. Laut Los "Angeles Times" ist sich gerade Tills Familie aber nicht mehr sicher, ob solche Fotos heute die gleiche Wirkung erzielen.
Ist die Zeit reif, um trauernde Eltern nach ihrer Zustimmung zu fragen?
Die ehemalige CNN-Moderatorin Brooke Baldwin, die über viele Massaker berichtet hat, fürchtet in "The Atlantic", dass nach dem Medien-Wettlauf nach Texas und dem Druck, vor Ort mit den Familien der Opfer zu sprechen, das Medien-Interesse allmählich schwinde. Sie geht freilich davon aus, dass sich die Meinung über Waffen ändern könnte, würde erlaubt zu zeigen, was von den Kindern übrig ist, die von Angriffswaffen zerfetzt wurden, bevor sie in die Särge gelegt werden? Vielleicht sei die Zeit reif, trauernde Eltern nach ihrer Zustimmung zu fragen. Und David Boardman, ehemals Redakteur der "Seattle Times", jetzt Journalismusschule Temple, twitterte: "Ich hätte mir nicht vorstellen können, dies vor Jahren zu sagen, aber es ist an der Zeit - mit der Erlaubnis eines überlebenden Elternteils - zu zeigen, wie ein geschlachteter 7-Jähriger aussieht".
Dazu sagt der Pressekodex in Deutschland in Ziffer 8 unter anderem: "Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt."
Journalismus-Dozentin Susie Linfield: "Sehen und Handeln sind nicht dasselbe"
Susie Linfield, die in New York Kulturjournalismus lehrt, schrieb in der "New York Times": Bilder können Leid und körperliche Qualen, die Gewalt verursacht, auf eine Weise nahe bringen, wie es Worte nicht können." Sie bleibt aber kritisch und fragt: "Was dürfen wir über Leiden anderer wissen? Und wenn wir es wissen, was dann?"
Linfield warnt, dass Sehen und Handeln nicht dasselbe sind. Denn es sei naiv anzunehmen, ein Bild werde nur auf eine Weise interpretiert. So vermutet Reporter Lucas Shaw, die Waffenbesitzer wären nach solchen Bildern eher geneigt, "ihre Waffen zu behalten".
Familie lehnt ab: Alles würde nur verstärkt
Linfield glaubt nicht, dass trauernde Eltern jemals die Verbreitung von Bildern ihrer toten Kinder erlauben würden, die in der Folge dann auf Websites entehrt werden könnten. Kinder stünden für den Glauben an die Zukunft. Sie verletzt zu sehen, löse Mitleid, Wut, Trauer und Scham aus. "Was tun wir mit diesem Strudel von Emotionen, wenn er entfesselt ist?"
Alles würde nur verstärkt, lautete beispielsweise Lenny Pozners Ablehnung von Bildveröffentlichungen von seinem 2012 ermordeten Sohn Noah. Traumatisierte Menschen würden noch traumatisierter. Sewell Chan ("Texas Tribune"), befürchtet, dass das Zeigen solcher Bilder als "ausbeuterisch oder unethisch oder unschicklich" erscheinen und das Recht des Menschen auf "Würde, auch oder gerade im Tod" untergraben könnte.
Der deutsche Pressekodex hält in Ziffer 11 unter anderem fest, dass der Mensch nicht zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt werden darf. Und bei Bildern von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten sind mögliche Wirkungen auf Kinder und Jugendliche zu beachten.
Das Grauen mit Worten illustrieren
Klug schließt Linfield ihren Beitrag in der New York Times: "Verlangen Sie nicht, dass Bilder für Sie denken oder handeln." Die Gesetzgeber, die sollten solche Bilder sehen. Denn es liege an Menschen etwas zu ändern: "Journalisten wiederum haben immer noch Worte, und es wäre ein Fehler zu glauben, dass wir alle die vielen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, die wir nutzen können, um das Grauen zu illustrieren, ohne Bilder zeigen zu müssen", resümiert Jon Allsop im Journalism Review der Columbia University.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Quellen für diese Zusammenfassung: The Poynter Report und Columbia Journalism review
Frühere Leseranwalt-Kolumnen zu Opferfotos:
April 2022: "Warum man bei der Veröffentlichung von Fotos von Kriegsverbrechern und Opfern gut abwägen muss"
2020: "Keine Propaganda des Terrors"
2019: "Fotografierte Zeitgeschichte"
2019: "Über den Opferschutz wacht der Presserat"
2017: "Heikle Entscheidungen: Fotos nach Terroranschlägen"
2015: "Über den journalistischen Bauchnabel hinaus auf die Wirklichkeit blicken"
2014: "Wenn Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit dem Leid der Hinterbliebenen in Konflikt kommt"
2010: "Wenn die Darstellung von menschlichem Leid und Elend Zeitgeschichte ist"