In dem langwierigen Prozess, der an diesem Donnerstag in Schweinfurt zu Ende gehen soll, geht es um Stäbe, Joche, Pfeiler, Beton und Stahl. Es geht um Berechnungen, Pläne und Zeichnungen. Um Schuld und Unschuld. Um den Ruf der vier angeklagten Ingenieure und ihre berufliche Zukunft. Und es geht um viel Geld. Prozesskosten, Schadensersatz, Wiederaufbau nach dem Einsturz.
Worum es in diesem Prozess vor dem Landgericht Schweinfurt kaum geht: um die Menschen, die von dem Unglück betroffen sind. Wüsste man nicht, dass bei dem Einsturz eines Teils der Talbrücke Schraudenbach bei Werneck (Lkr. Schweinfurt) am 15. Juni 2016 ein Mann ums Leben kam und 14 weitere Arbeiter teils lebensgefährlich verletzt wurden - man würde es in der Verhandlung kaum mitbekommen.
Ein Prozess, in dem es wohl nicht nur die eine Wahrheit gibt
Es ist ein Wortgerangel zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Gutachter auf der einen und der Menge von Angeklagten, Verteidigern und Hilfspersonen auf der anderen Seite. An zwei langen Tafeln sitzen 15 Personen. Darunter die vier Angeklagten, nennen wir sie Gerd W. (59), Thomas T. (51), Holger A. (64) und Christian Z. (49). Jeder von ihnen sitzt da mit Laptop, Mappe, Aktenkoffer. Einige haben Verlängerungskabel dabei für ihre elektronischen Geräte.
Aktenordner halten sie sich nicht vors Gesicht, als die Kameras am 13. März 2023, am ersten Prozesstag, in der Stadthalle Schweinfurt auf sie gerichtet sind. Die Schuld für das, was passiert ist, will offenbar niemand auf sich nehmen. Die Anwälte, ausgestattet mit großem Selbstbewusstsein, gestalten ihre Verteidigung, wie man es erwarten darf. In einem Verfahren, in dem es ganz offensichtlich nicht die eine Wahrheit und den einen Schuldigen gibt.
15. Juni 2016: Das Traggerüst bricht "ohne ein vernehmbares Geräusch" in sich zusammen
Das Unglück passiert am 15. Juni 2016, kurz vor 16 Uhr. Die Betonierarbeiten auf dem Fahrbahnabschnitt 3 für die neue A7-Talbrücke Schraudenbach Richtung Fulda sind in vollem Gange. 1500 Tonnen Beton sind schon eingefüllt, es fehlen nur noch ein paar Meter. Plötzlich, "ohne ein vernehmbares Geräusch", wie es ein Augenzeuge später schildert, bricht das Traggerüst in sich zusammen. Und reißt 13 Bauarbeiter knapp 20 Meter mit in die Tiefe.
Während auf dem Boden die Metallstreben kreuz und quer liegen, die Stahlverstrebungen abgerissen von den Pfeilern hinunterhängen, fließt oben auf der A7 Richtung Würzburg der Verkehr weiter.
Und auch nach fast sieben Jahren weiß man noch nicht, wer die Schuld an dem Unglück trägt. Im Prozess entwickeln sich mehrere Spuren.
Lag es an der falschen Statik und mangelnder Überprüfung?
Für die Staatsanwaltschaft ist es eine ganze Fehlerkette, die bei dem Statiker Thomas T. beginnt. Der Mann mit der Brille weist die Vorwürfe nicht zurück. Er schweigt - Prozesstag für Prozesstag. Anders als bei seinen Mitangeklagten liest seine Verteidigerin keine Einlassung vor. Es wirkt, als würde Thomas T. diese Verhandlung einfach absitzen. Er tippt und liest an seinem Laptop, als wäre er mit etwas ganz anderem beschäftigt, während seine Anwältin die Zeuginnen und Zeugen löchert, um seine mutmaßliche Unschuld zu beweisen.
Das Problem für die Statik des Traggerüstes, die er berechnet hatte, könnte die Kreisstraße zwischen Schraudenbach und Zeuzleben gewesen sein, die unter der Brücke verläuft. Sie sollte jederzeit für den Verkehr frei befahrbar bleiben. Was Oberstaatsanwalt Reinhold Emmert aus der Anklageschrift vorliest, ist für Laien schwer verständlich: "In der statischen Berechnung wurden die Joche 9 bis 10 jedoch weiter als Turmjoch ausgelegt und dabei die Überbrückung der Straße und (...) die Auflösung des Turmjochs in zwei Einzeljoche nicht erfasst."
Ein Joch ist ein Teil eines Traggerüsts. Bei der Art, wie diese Brücke gebaut wurde, braucht man dieses, um die Betonlast zu tragen, bis der Baustoff hart genug und selbst tragfähig ist. Grundsätzlich gelten Turmjoche als stabiler als Doppeljoche. Zwischen den Doppeljochen in Bauabschnitt 3 konnte aber aufgrund der Straße kein Turmjoch stehen. So wurden zwei Einzeljoche gewählt und mit den beiden Doppeljochen verbunden. War also die Statik falsch berechnet? Und wenn ja, war dies die alleinige Ursache des Einsturzes?
An dieser Stelle kommt der Sachverständige ins Spiel. Fünf volle Verhandlungstage sind vorbei, als Professor Johann Kollegger von der TU Wien sein Gutachten präsentiert. Kritik an ihm gab es im Vorfeld viel – nicht nur wegen seiner angeblich fehlenden Sachkunde. Sondern auch, weil der Experte für Stahlbeton und Massivbau - wie er selbst sagt - offenbar seit 20 Jahren keinen Computer mehr benutzt. Für die Verteidigerin von Thomas T. ist das "nicht zeitgemäß".
Der Gutachter bestätigt die Vorwürfe in der Anklageschrift
Auf einem Tablet, das er sich für Online-Vorlesungen während Corona zugelegt habe, zeigt Johann Kollegger am sechsten Verhandlungstag seine Präsentation. Er spricht langsam, sortiert immer wieder seine Unterlagen, nuschelt ins Mikrofon. Immer wieder wird er von der Vorsitzenden Richterin Claudia Guba unterbrochen, mit der Bitte, doch etwas deutlicher zu sprechen.
Umso deutlicher ist dann Kolleggers Ergebnis: Die Ursache für den Einsturz des Bauabschnitts liege in einem "globalen Stabilitätsversagen" dreier Joche. Sie seien nicht ausreichend dimensioniert gewesen, um die Last des frischen Betons zu tragen. Der Statiker habe notwendige "globale Stabilitätsnachweise" nicht vorgenommen, sagt der Gutachter: "Es gibt keine Statik für die Jochgruppe 7-8-9. Da kann ich nicht sagen, es ist fehlerhaft, wenn es gar keine gibt." Kollegger stützt mit dieser Aussage im Wesentlichen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.
Auch die Statik für das Traggerüst muss immer genau überprüft werden
Für die Staatsanwaltschaft endet die Fehlerkette nicht beim Statiker. Für Oberstaatsanwalt Emmert ist klar: Auch die drei weiteren Angeklagten müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Gerade bei solchen Bauprojekten ist die Prüfung der Statik zwingend - und es gilt das Vier-Augen-Prinzip. Der Prozess offenbart erstaunliche Details: Der ursprünglich vom Freistaat beauftragte Prüfingenieur, Gerd W., hatte den Auftrag im April 2015 angenommen, aber drei Monate später dafür keinen eigenen Sachbearbeiter. Sein Sachbearbeiter war gerade auf dreimonatiger Weltreise - also kontaktierte W. ein anderes Ingenieurbüro – und fragte nach Unterstützung durch seinen Bekannten Holger A.. Beide Männer sind bundesweit bekannte und renommierte Prüfingenieure.
Wie diese Unterstützung tatsächlich aussah, ist einer der großen Streitpunkte im Prozess. Festzustehen scheint, dass der Sachbearbeiter Christian Z. in den Prüfauftrag verwickelt war – und somit, wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, das nächste Glied in der Fehlerkette ist. Seine Aufgabe: die statischen Berechnungen von Thomas T. zu überprüfen. Ob er das gemacht hat und wie, ist weitgehend offen. Hat er die mutmaßlichen Fehler in den Berechnungen übersehen?
Der eine Prüfingenieur schweigt, der andere wird von der Richterin ermahnt
Spätestens die beiden Prüfingenieure Gerd W. und Holger A. hätten, so sagt es die Staatsanwaltschaft, die Arbeit des Sachbearbeiters überwachen müssen. Das hat offenbar keiner getan. Die beiden Prüfingenieure, die sich wohl aus Studientagen kennen, schieben sich Prozesstag für Prozesstag gegenseitig die Schuld zu. Holger A. selbst schweigt und lässt seine engagierte Anwältin für ihn sprechen.
Gerd W. dagegen greift während der Befragung von Zeugen und Gutachtern oft selbst zum Mikrofon. Und nicht selten wird er von Richterin Guba darauf hingewiesen, Fragen zu stellen statt "einen Vortrag zu halten".
Die Verteidigungen spielen den Ball hin und her: Gerd W. habe den gesamten Prüfauftrag, weil er selbst keinen Sachbearbeiter gehabt habe, an Holger A. und dessen Sachbearbeiter Christian Z. abgegeben, sagen seine Verteidiger. Die Anwältin von A. sagt, er habe W. lediglich seinen Sachbearbeiter ausgeliehen und mit dem Prüfauftrag selbst nichts zu tun gehabt. Unzählige E-Mails sollen das, was die jeweilige Verteidigung für die Wahrheit hält, beweisen.
Über die Weitergabe des Prüfauftrages sei die Autobahndirektion Nordbayern nicht informiert gewesen, sagt eine Zeugin vor Gericht. Die Protokolle hatte immer nur ein Prüfingenieur unterschrieben: Gerd W.
Führen die Spuren in eine ganz andere Richtung?
Doch was, wenn es doch keine Fehler bei der Statik gab, sondern beim Aufbau des Traggerüstes? Eine wichtige Zeugin für die Verteidigungen ist die technische Zeichnerin, die T.s Berechnungen in eine Ausführungszeichnung übertrug. "Es war ein Projekt wie viele andere auch", sagt sie vor Gericht.
In ihrer Vernehmung dauert es nicht lange, bis die Fragen der Verteidigungen in eine ganz bestimmte Richtung gehen: "Ist der Plan für den Ausbau verbindlich?", fragt ein Verteidiger. Die Zeichnerin antwortet: "Verbindlich." – "Was hat das für eine Auswirkung, wenn man da was weglässt?" – "Dann kann das Traggerüst instabil werden."
Das ist ein Angriffspunkt für die Verteidigerinnen und Verteidiger: Im Laufe dieses Prozesses hat sich herausgestellt, dass offenbar nicht alle Teile, die in dem Plan vorgesehen waren, entsprechend eingebaut worden sind.
Lesen Sie im zweiten Teil unserer Spurensuche: Was die Verteidigung für die Einsturzursache hält und was der Gutachter dazu sagt.
Lesen Sie im dritten Teil unserer Spurensuche: Warum sich der Gutachter stundenlange Attacken anhören muss und wieso es plötzlich einen Angeklagten weniger gibt.
Bin bald 64 Jahre von Bau bis SAP alles ist schmerzhaft und tut sehr weh.
Wieder so ,Servus.