Thomas T. packt sein Handy ein, die Jacke hatte er gar nicht ausgezogen. Er verabschiedet sich, steht auf und geht aus der Stadthalle in Schweinfurt heraus, als wäre er bloß ein Besucher gewesen, dem jetzt etwas dazwischen gekommen ist. T. ist der Statiker, der das Traggerüst des am 15. Juni 2016 eingestürzten Brückenteils der Talbrücke Schraudenbach auf der A7 zu verantworten hat.
Es bleiben die drei mit T. angeklagten Prüfingenieure Gerd W., Holger A. und Christian Z. (Namen von der Redaktion geändert) und ihre Verteidigungen, denen T.s Abgang überhaupt nicht passt. Thomas T.s Anwältin ist krankgeschrieben, noch für mindestens zwei Wochen. Ohne Verteidigung geht es für ihn deshalb am zehnten Verhandlungstag nicht weiter.
Seit dem 13. März 2023 wird geklärt, wer die Schuld daran trägt, dass das Traggerüst am 15. Juni 2016 nachgegeben hat. Im ersten Teil unserer Spurensuche ging es um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen die vier angeklagten Ingenieure (Klicken Sie hier für den ersten Teil der Schraudenbach-Recherche). Im zweiten Teil um die Sicht der Verteidigerinnen und Verteidiger (Klicken Sie hier für den zweiten Teil der Schraudenbach-Recherche). In diesem dritten und letzten Teil stehen der Abgang von Thomas T. und ein Gutachter im Mittelpunkt.
Neue Pflichtverteidigung für Thomas T. hätte zu wenig Zeit, sich einzuarbeiten
Was bedeutet der Abgang von Statiker Thomas T.? Die Staatsanwaltschaft will wie das Gericht weiterverhandeln. "Es gibt nicht den geringsten Grund, dass der gesamte Prozess ausgesetzt wird." 2019 war der Prozess schon einmal ausgesetzt worden, weil ein neues Gutachten her sollte. Ein Vorschlag der Verteidiger jetzt: Thomas T. solle einen Pflichtverteidiger bekommen. Die Vorsitzende Richterin Claudia Guba antwortet prompt: "Gerade Sie betonen, wie kompliziert und komplex das Verfahren ist. Und Sie erwarten, dass ein Vertreter sich einarbeitet?"
Die Verteidigungen sehen ihre Mandanten benachteiligt, weil aus ihrer Sicht der Statiker noch weitere wichtige Informationen hätte liefern können. Es geht aber auch um durchgearbeitete Nächte. "Auch für uns ist diese Hauptverhandlung eine enorme Belastung, wir sind am Anschlag", sagt eine Anwältin. "Ich war kurz vorm Weinen, es hat mich schwer getroffen, als die Verletzten ausgesagt haben."
Der Vertreter der Nebenklage – er vertritt mehrere Verletzte und die Familie des Getöteten – steht auf, tritt ans Mikrofon. Er ist empört: "Mir kommen gleich die Tränen", beginnt er sarkastisch. "Die armen Angeklagten, die armen Verteidiger. Denken Sie mal ein bisschen darüber nach, wie es den Opfern geht, wenn das Verfahren hier nicht abgetrennt wird?" Sie müssten noch länger warten als ohnehin schon, bis ein Urteil gefällt ist. Um dann vielleicht mit dem Geschehen abschließen zu können.
Das Schwurgericht sieht keine andere Möglichkeit: Das Verfahren gegen Statiker T. wird abgetrennt. Damit ist klar: Unabhängig, wie das Urteil gegen die verbliebenen Angeklagten ausfällt, in einigen Monaten fängt die Kammer in dem Verfahren gegen Thomas T. von vorne an. Gutachten, Beweisaufnahme, etc.
Gutachter im Schraudenbach-Prozess wird von Verteidigern und Anwälten in die Zange genommen
Nach Thomas T.s Abgang nimmt der Prozess eine erneute Wende. Die Luft für die Ingenieure scheint dünner zu werden, je näher das Ende des Verfahrens und das Urteil kommt. Schließlich geht es um fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung.
Jetzt schießen sie nicht mehr gegeneinander. Jetzt soll bewiesen werden, dass der Aufbau des eingestürzten Traggerüstes falsch war – und nicht die Statik oder deren Prüfung. Im Mittelpunkt: eine stundenlange, sich über mehrere Tage erstreckende Befragung des Gutachters, Universitäts-Professor Johann Kollegger aus Wien durch die Anwälte und die Angeklagten.
Die Verteidiger stecken immer wieder ihre Köpfe mit ihren Mandanten zusammen. Es scheint, als hätte man sich zusammengetan, fast verbündet, gegen den Experten für Stahlbeton und Massivbau, der in weiten Teilen die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft stützt.
Insgesamt drei Prozesstage lang geht es um Stoßkupplungen, Ankerplatten und Kanthölzer. Um die Dimension der verwendeten Schrauben, um die Dicke eingebauter Rohre. Den technischen Ausführungen ist kaum noch zu folgen. Es geht um die Frage, ob das Traggerüst auch bei planmäßigem Aufbau eingestürzt wäre. Ob die Jochträger plangemäß befestigt waren oder nicht. Ob sich durch die Vibration bei der Betonage etwas am Gerüst gelöst haben könnte. Auch die Verformung eines Stabes während der Betonage wird ausgiebig diskutiert.
"Die Stoßkupplungen lassen mir keine Ruhe", sagt der Angeklagte Gerd W. Auch seine sonst schweigsamen Mitangeklagten Holger A. und Christian Z. ergreifen nun selbst das Wort. Jetzt stellen hier die Ingenieure dem Ingenieur Kollegger Fragen, nicht mehr die Juristen.
Angeklagte wollen zeigen, dass das Gerüst der Brücken-Baustelle falsch aufgebaut war
Die Anspannung steigt, je länger die Befragung dauert. Es folgen neue Beweisanträge, Forderungen, bestimmte Themen noch einmal neu zu rechnen. Einmal steht Holger A. auf und präsentiert eine Druckkupplung und ein Rohr. Es scheppert metallisch, als er die Kupplung aufs Rohr steckt. Was er beweisen will: "Das Einsturzszenario gemäß Rechenmodell ist unzutreffend."
Eine Spur, der alle anderen Verteidigungen auch folgen. Denn: Wenn das Gerüst eingestürzt ist, weil es falsch gebaut war, wären weder Statiker noch Prüfingenieure verantwortlich. Gegen die Gerüstbauer wurde bereits ermittelt, die Ermittlungen wurden aber eingestellt.
Das Verfahren zehrt an den Nerven der Prozessbeteiligten. Im Publikum sitzt ein Zeuge mit Laptop, seine Aussage vor Gericht ist schon länger her. Während der Ausführungen des Gutachters regt er sich leise auf. Er ist ein Kollege von Holger A. und Christian Z., ebenfalls Ingenieur. Als um eine weitere Unterbrechung gebeten wird, "um weitere Fragen abzustimmen", platzt Richterin Guba der Kragen: "Wenn ich hier den Eindruck gewinne, dass der Publikumsjoker gezogen wird und hier weitere Personen in das Verfahren eingeführt werden, werden elektronische Geräte verboten." Und schon ist der Laptop im Publikum zu.
Ein normgemäß geplantes und geprüftes Traggerüst hätte die doppelte Betonmenge gehalten
Der Sachverständige bleibt bei seinem Ergebnis, auch wenn er zugibt, dass es Punkte gibt, die er in seinem Gutachten nicht berücksichtigt hat: "Es ist nicht entscheidend, welche Kupplung genau versagt hat, das Gerüst hat versagt, weil es unterdimensioniert war." Hätte das Traggerüst den Vorschriften und der geltenden Norm entsprochen, erklärt Kollegger, hätte es die doppelte Menge Beton aushalten müssen.
Die Planung, vor Ostern ein Urteil zu haben, verwirft die Vorsitzende Richterin. Eine Entscheidung über weitere Beweisanträge steht aus. Weiter geht der Prozess am 2. Mai, Termine bis Mitte Juni sind geblockt.
Gesetz dem Fall, der Gutachter hat recht, bleibt eines ungewiss: Warum hat der Statiker das Gerüst nicht der Norm gemäß geplant? Geäußert hat er sich bisher nicht. Und auf eine mögliche Antwort muss das Gericht noch einige Monate warten.