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Schweinfurt
Wer trägt die Schuld am Einsturz der Talbrücke Schraudenbach? Verteidigung spricht von "Pfusch am Bau"
Der Prozess vor dem Landgericht Schweinfurt nähert sich dem Ende. Im zweiten Teil der Spurensuche geht es um mutmaßliche Fehler bei der Bauausführung.
Knapp sieben Jahre nach dem Einsturz eines Teilstücks der Schraudenbach-Brücke läuft derzeit vor dem Landgericht Schweinfurt ein Prozess gegen vier Angeklagte – einen Statiker und drei Prüfingenieure.
Foto: Anand Anders, Getty Images | Knapp sieben Jahre nach dem Einsturz eines Teilstücks der Schraudenbach-Brücke läuft derzeit vor dem Landgericht Schweinfurt ein Prozess gegen vier Angeklagte – einen Statiker und drei Prüfingenieure.
Lisa Marie Waschbusch
 und  Oliver Schikora
 |  aktualisiert: 22.02.2024 14:41 Uhr

Mit dieser Brücke haben sie schon viel erlebt. Da war dieser Unfall 1976, bei dem ein Lkw von der Brücke stürzte. Der Verkehr, der mit den Jahren immer mehr wurde, der Lärm immer stärker. Die Baustellen, monatelang. Sie kriegen das ja immer alles mit. Vom Hof der Weingarts, nur wenige hundert Meter entfernt, hat man einen guten Blick auf die Talbrücke Schraudenbach der A 7.

Und dann kam der 15. Juni 2016.

"Es war ein Knall, als wäre ein Flugzeug abgestürzt", erinnert sich Anton Weingart an den Tag des Unglücks vor fast sieben Jahren. Zuerst dachte er, an seiner Baustelle auf dem Hof sei etwas passiert; dann aber schaute er zur Brücke. Ein Teil der Talbrücke Schraudenbach auf der A 7 nahe Werneck (Lkr. Schweinfurt) war eingestürzt.

"Man erwartet, dass alle schreien, aber es war eine unheimliche Stille."
Anton Weingart, Zeuge des Einsturzes

Weingart lief damals zur Unglücksstelle, sah noch zwei Arbeiter im Stahlgewirr in mehreren Metern Höhe hängen. Ein Bild wie im Krieg. "Es war wirklich schauderhaft", erinnert er sich. "Man erwartet, dass alle schreien, aber es war eine unheimliche Stille." 

Den Prozess verfolgen Weingarts fast sieben Jahre später in der Zeitung. Seit dem 13. März 2023 will das Landgericht Schweinfurt klären, wer für den Einsturz verantwortlich ist. Es ist ein Verfahren, in dem es ganz offensichtlich nicht die eine Wahrheit oder den einen Schuldigen gibt. Im ersten Teil unserer Spurensuche ging es ausführlich um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen die vier angeklagten Ingenieure. In diesem zweiten soll es um die Sicht der Verteidigerinnen und Verteidiger gehen.

Die verletzten Arbeiter kämpfen noch heute mit den Folgen

Insgesamt 13 Bauarbeiter sind an diesem Junitag 2016 auf dem Abschnitt der Brücke, als das Traggerüst nachgibt. Kaum einer von ihnen, die meisten stammen aus Kroatien, kann sich noch an etwas erinnern. Das wird in ihren Aussagen vor dem Landgericht deutlich. Alles gelöscht. Als sie aufwachen, in den Trümmern oder im Krankenhaus, beginnt der wahre Kampf für die Männer, die noch heute mit den Folgen des Unglücks kämpfen.

Der ältere Mann, einer der Verletzten, schluchzt, als er im Zeugenstand sitzt, beginnt mehrmals zu weinen. Vier volle Verhandlungstage sind vergangen, bis das Gericht einige der Überlebenden anhört. "Ich wollte mir schon öfter das Leben nehmen", sagt der ältere Mann vor Gericht. Aber er habe ja Frau und Kind. Er sei Ingenieur, und dass er seit sieben Jahren nicht mehr wirklich arbeiten könne, sei eine zusätzliche Belastung. Er ist seit Jahren in Therapie, berichtet von Alpträumen und Angst. Gerade jetzt, mit dem Erdbeben in der Türkei, kämen auch bei ihm die Absturzbilder wieder hoch. Er sagt: "Die Beschuldigten haben mein Leben ruiniert."

Von diesen Beschuldigten – das sind Prüfingenieur Gerd W., Prüfingenieur Holger A., dessen Sachbearbeiter Christian Z. und Statiker Thomas T. (Namen von der Redaktion geändert) – schaut niemand zu ihm, nicht jetzt und auch nicht vorher. Ob man ihnen vorher gesagt hat, keine Reaktion zeigen zu dürfen? Womöglich könnte daraus noch ein Schuldeingeständnis gedeutet werden.

Der Gerüstbauer wurde auch verletzt – und verdächtigt

Und dann gibt es da noch einen Mann, der auch in der Liste der verletzten Personen auftaucht: der Gerüstbauer. Ihn traf ein Betonteil am Bein. "Ich bin zu einem Container unter der Brücke gelaufen", erzählt er vor Gericht. "Erfahrungsgemäß schaut man immer hoch, es hat nichts ausgeschaut, als würde irgendwo ein Problem sein." Und dann, innerhalb einer Sekunde, sei alles zusammengestürzt. 

Wer trägt die Schuld am Einsturz der Talbrücke Schraudenbach? Verteidigung spricht von 'Pfusch am Bau'

Ein wahrlich wichtiger Zeuge, hätte es da nicht 2021 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn im Zusammenhang mit dem Unglück gegeben. Zur jetzigen Vernehmung vor Gericht kommt der Gerüstbauer mit einem Anwalt, der ihn immer wieder auf sein Auskunftsverweigerungsrecht aufmerksam macht, auf das er sich berufen könne, um sich nicht selbst zu belasten. "Mein Mandant wird nichts über die Autobahnbrücke sagen", sagt der Anwalt schließlich. "Wir wissen nicht, was noch kommt."

In der Tat rückt der Gerüstbauer im Laufe des Prozesses in den Fokus der Verteidigungen. Denn: Das Traggerüst wurde offenbar abweichend von den Plänen aufgestellt. So seien beispielsweise mehrere Schrauben, Halterungen und Diagonalstäbe nicht montiert gewesen.

Verteidiger: Staatsanwaltschaft ermittelte in die falsche Richtung

Der Verteidiger von Prüfingenieur Gerd W. will weitere Zeugen hören aus dem ersten Anlauf des Prozesses 2019, als der Gerüstbauer deutlicher vor Gericht aussagte. Er soll damals davon gesprochen haben, dass er aufgrund des Pfeilers Stangen nicht wie geplant habe einbauen können. Mit dem ebenfalls angeklagten Statiker Thomas T. habe er daraufhin allerdings keinen Kontakt aufgenommen.

Wenn es nach dem Verteidiger von Gerd W. geht, ermittelte die Staatsanwaltschaft von Anfang an in die falsche Richtung. Vor Gericht wählt er starke Worte gegen die ausführenden Firmen: "Das war Pfusch am Bau."

Es geht um Schuld und Unschuld, und es geht um den guten Ruf der vier Ingenieure. Sie sollen für den Einsturz eines Teils der Talbrücke Schraudenbach im Juni 2016 verantwortlich sein.
Foto: Daniel Karmann, dpa | Es geht um Schuld und Unschuld, und es geht um den guten Ruf der vier Ingenieure. Sie sollen für den Einsturz eines Teils der Talbrücke Schraudenbach im Juni 2016 verantwortlich sein.

Es gibt da diesen einen Auftritt von Gerd W. im Prozess, der besonders hängenbleibt. Der, als er aufsteht und den Juristen erklären will, wie so ein Traggerüst überhaupt funktioniert. Selbstsicher im dunkelblauen Anzug steht der 59 Jahre alte Professor vor der 1. Großen Strafkammer, erläutert technische Details, als handele es sich um eine Vorlesung. Er sagt auch: "Von dem freigegebenen Plan darf nicht abgewichen werden." Änderungen müssten dem Statiker noch einmal vorgelegt werden. Wenn nicht, "haben Sie einen Schwarzbau".

"Von dem freigegebenen Plan darf nicht abgewichen werden."
Angeklagter Gerd W.

Dann scheint seine Selbstsicherheit zu schwinden, die Stimme wackelt. "Das ist schlecht", schüttelt er den Kopf, "schlecht. Das ist nicht erlaubt." Und dann will der Prüfingenieur noch etwas erklären, unterbricht sich selbst und sagt schließlich: "Entschuldigung, ich bin ein bisschen emotional. Es muss ständig überwacht werden."

Was er meint: die Betonage. Gerd W.s Verteidiger kritisiert, dass diese für den entsprechenden Bauabschnitt nicht hätte freigegeben werden dürfen. Der Grund: unter anderem fehlende Prüfprotokolle. Dabei handelt es sich um zwei Protokolle aus der sogenannten ZTV-ING (Zusätzliche Technische Vertragsbedingungen und Richtlinien für Ingenieurbauten), die klare Vorgaben für Traggerüste und deren Prüfung enthält.

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Ein Formblatt beschäftigt sich mit der Abnahme des Traggerüstes, ein zweites mit der stichprobenweisen Überwachung. Beide Protokolle gab es für den dritten Bauabschnitt nicht. In der Vorschrift heißt es: "Vor dem Aufbringen der Nutzlast ist mit den Protokollen (...) zu bestätigen, dass die Ausführung mit den geprüften Ausführungsunterlagen übereinstimmt, dass die eingebauten Teile unbeschädigt sind und, dass alle Schweißarbeiten von Betrieben durchgeführt worden sind, die über eine gültige Bescheinigung (...) verfügen."

Unklar bleibt vor Gericht, wer letztlich die Genehmigung für die Betonage erteilte. In der ZTV-ING steht dazu: "Die Freigabe zur bestimmungsgemäßen Benutzung des Traggerüstes wird auf der Grundlage der Formblätter (...) durch den Gesehenvermerk des Auftraggebers erteilt." Das war die Autobahndirektion Nordbayern als Bauherr der Brücke.

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Außerdem heißt es: "Während des Betonierens und des Vorspannens bzw. während der Aufbringung der Nutzlast sind die Verformungen und Setzungen des Gerüstes ständig zu überprüfen (Soll-Ist-Vergleich) und zu dokumentieren. Ggf. sind besondere Maßnahmen einzuleiten oder erforderlichenfalls die Arbeiten zu unterbrechen."

Hätte man die Verformung des Traggerüstes beim Betonieren sehen können?

Tatsächlich hat es eine solche Verformung von gut acht Zentimetern gegeben. Auf einem Bild, das 13 Minuten vor dem Einsturz von einem Mitarbeiter der Autobahndirektion aufgenommen wurde, soll diese Verformung zu sehen sein. Gerd W.s Verteidiger formuliert eine klare Schlussfolgerung: Hätte das jemand rechtzeitig erkannt und die Arbeiter auf der Brücke gewarnt, hätte man den Einsturz vielleicht nicht verhindern können, aber es wäre niemand zu Schaden gekommen.

Der vom Gericht beauftragte Gutachter Johann Kollegger sagt dazu: "Man hätte es sehen können, aber nicht müssen." Und ohnehin ist seine Schlussfolgerung zu den Thesen der Verteidigung eindeutig: Ja, es habe Abweichungen vom Plan gegeben. Diese seien aber nicht die Ursache des Einsturzes.

Am Ende stellt sich die Frage: Kann es ein gerechtes Urteil geben? Anwohner Anton Weingart hofft es, aber der 74-Jährige ist sich auch bewusst, "dass es ganz, ganz schwierig ist". Auch fast sieben Jahre nach dem Unglück bleibe das komische Gefühl ein täglicher Begleiter, wenn seine Familie unter der Brücke Richtung Zeuzleben durchfährt.

Am kommenden Donnerstag soll das Urteil fallen.

Lesen Sie hier den dritten Teil unserer Spurensuche: Warum sich der Gutachter stundenlange Attacken anhören muss und wieso es plötzlich einen Angeklagten weniger gibt.

Die Autoren und die Recherche

Oliver Schikora und Lisa Marie Waschbusch
Foto: Angie Wolf/Daniel Biscan | Oliver Schikora und Lisa Marie Waschbusch
Oliver Schikora über die Recherche: Den Anruf der Polizei am 15. Juni 2016 am Spätnachmittag haben wir nicht vergessen: "Die Schraudenbach-Brücke ist eingestürzt", hieß es. Die Hektik war groß, wir waren mit mehreren Reportern damals vor Ort. Was sie erzählten und welche Bilder von der Unglückstelle sie lieferten, war unwirklich, unfassbar. Genauso wie die Tatsache jetzt, dass knapp sieben Jahre später noch immer keine Schuldigen gefunden sind.
Lisa Marie Waschbusch über die Recherche: Selten habe ich einen so langwierigen und komplexen Prozess erlebt wie diesen. Ein Prozess, in dem es um viel mehr als nur um Schuld und Unschuld geht, und der als Laie so schwer nachvollziehbar ist. Dass die Perspektive der Verunglückten kaum eine Rolle spielt, ist wenig verwunderlich. Hier will niemand die Schuld für ihr Leid tragen. Am Ende wird das Gericht ein Urteil finden müssen. Eines, das den Verletzten und Angehörigen des Getöteten hilft, endlich damit abschließen zu können.
Quelle: lmw, oli
 
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