Sybille Schmitz-Rügamer holt tief Luft. Ihre Augen Blitzen vor Wut. "Man ist die ganze Zeit damit beschäftigt, Lücken zu stopfen. Es ist ein ständiges Dilemma und auf Dauer macht dich das mürbe." Fast zwei Jahrzehnte hat Schmitz-Rügamer als Leiterin verschiedener Pflegeeinrichtungen der AWO in Unterfranken gearbeitet. "Irgendwann habe ich mich gefragt, will ich das noch?" Die 59-Jährige wollte nicht mehr - und stieg im Juni aus.
So weit ist es bei Jürgen Görgner nicht. Noch nicht. Aber ja, auch er habe in seinen 23 Jahren als Chef des Hans-Sponsel-Hauses in Würzburg schon Momente erlebt, in denen er den Job hinschmeißen wollte, sagt der 49-Jährige. Gerade in den letzten Jahren, gerade nach der Corona-Pandemie.
Warum? Und was sind in der Pflege die größten Probleme? Im Gespräch schildern die beiden Führungskräfte, was sie im Alltag verzweifeln lässt – oder zur Weißglut bringt.
Jürgen Görgner: Ich bin seit 2000 Einrichtungsleiter und wenn ich früher Personal gesucht habe, habe ich meinen Stapel an Bewerbungen durchgeschaut. Heute bin ich froh, wenn sich überhaupt jemand bewirbt. Der Personalmangel ist gravierend und das beeinflusst den gesamten Ablauf.
Sybille Schmitz-Rügamer: Wir müssen 365 Tage im Jahr 24 Stunden mit Diensten abdecken. Wir müssen Personal vorhalten, um Ausfälle und Krankheiten zu kompensieren. Das war immer möglich. Aber gerade bricht das System zusammen und dann musst du immer wieder einspringen oder Dienste verlängern und das macht krank. Ich habe als Einrichtungsleitung immer gesagt: Ich kann die Welt da draußen nicht ändern, aber ich kann die Welt für die Mitarbeiter und für die Bewohner, für die ich verantwortlich bin, ein bisschen schöner machen. Dazu gehört, wie ich mit Mitarbeitern umgehe, wie ich Dienstpläne gestalte und welche Kultur ich in der Einrichtung etabliere. Unter den jetzigen Bedingungen scheint es aber aussichtslos zu sein.
Görgner: Das ist es, was Führungskräfte an ihre Grenzen bringt: Sie sind mittlerweile vor allem damit beschäftigt, Lücken zu schließen – und wissen trotzdem nicht, wie und ob es morgen läuft. Gedanklich Feierabend kann man so kaum machen. Es herrscht stetiger Druck. Die letzten drei Jahre gab es keinen Urlaub, in dem ich nicht täglich meine Mails abgearbeitet habe.
Schmitz-Rügamer: Man kann das an einem typischen Beispiel sehen: Der Nachtdienst von heute meldet sich um 16 Uhr krank und alle Mitarbeiter sagen, sie können keinesfalls einspringen. Was dann? Dann arbeitest du mit einer Bereitschaft und kannst nicht schlafen. Aber was hättest du in diesem Moment anders machen sollen? Wenn das System in sich marode ist, aber von mir verlangt wird, dass ich damit die gleiche Leistung bringe, das ist unfair. Das kannst du nicht bewältigen und keiner versteht, unter welchen Nöten und welchen Dilemmata wir tagtäglich stehen.
Görgner: Die Überdokumentation macht vor allem den Führungskräften in der mittleren Ebene, den Stationsleitern und Wohnbereichsleitern, zu schaffen. Die Hälfte ihrer Zeit verbringen sie damit, zu schauen, dass keine Fehler und Lücken in der Dokumentation entstehen. Das frustriert, weil …
Schmitz-Rügamer: … uns diese Zeit an den Menschen fehlt.
Görgner: Genau. Die Pflegekräfte würden viel lieber einmal etwas länger die Hand der Bewohner halten, länger mit ihnen am Tisch sitzen und sich unterhalten oder eine Aktion für sie planen. Schlicht das machen, warum wir den Pflegeberuf gewählt haben. Wenn es aber nur noch darum geht, zu dokumentieren, und kein Spielraum mehr bleibt, um etwas für die Menschen zu tun, dann stellt man sich die Sinnfrage. Früher habe ich Ausflüge als Einrichtungsleiter organisiert, bin mit dem Minibus zum Schützenhof gefahren und habe dort mit Bewohnern den Nachmittag verbracht. Mittlerweile bin ich froh, dass ich Betriebswirt bin. Das ist eine verdrehte Welt.
Schmitz-Rügamer: Natürlich sind wir in der Pflege nicht perfekt und es ist wichtig, dass wir einen MDK und eine Heimaufsicht haben. Aber der Umgang, wie die Prüfer uns begegnen, das ist entscheidend. Das muss auf Augenhöhe passieren. In der Realität geht es bei den Kontrollen aber leider teils nur darum, was auf dem Papier steht – und nicht um die tatsächliche Situation vor Ort und das kann es doch nicht sein. Unsere Bewohner sind Menschen und keine Maschinen. Sie funktionieren nicht standardisiert.
Görgner: Es ist schon so, dass uns die externen Überprüfungen das Leben ein Stück weit schwer machen und das Personal einschüchtern. An einem Kontrolltag gehen die Pflegekräfte abends nach Hause, sind fix und fertig und haben Selbstzweifel. Eine gute Pflege muss zugelassen werden. Im Moment ist es bei den Kontrollen so, dass man erstmal schlechte Pflege unterstellt und sich dann vom besseren überraschen lässt.
Schmitz-Rügamer: In der Corona-Pandemie hatten wir Angst, dass unseren Bewohnern etwas passiert. Wir hatten Angst, wie alle anderen auch – und wir waren verantwortlich. Aber nach Corona ist man einfach zur Tagesordnung übergegangen. Das hat mich wirklich wütend gemacht. Und ich war auch ein Stück weit von der Gesellschaft enttäuscht.
Görgner: Wir waren eine der ersten Einrichtungen mit Covid-Fällen und wir hatten alle keine Ahnung, wie man damit umgeht. Keiner war geimpft, keiner gewappnet, wir hatten Null Hilfsmittel. Bei uns haben sich 70 Menschen infiziert und es sind leider 19 gestorben. Danach gab es ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung in 19 Fällen gegen mich, weil ich die juristische Person hinter der Einrichtung bin. Aber: Jeder war damals überfordert, die Heimaufsicht, der MDK, das LGL, das Gesundheitsamt und trotzdem wurde ein Schuldiger gesucht. Ich habe jeden Tag meine 17 oder 18 Stunden gearbeitet und versucht, es mit meinen Mitarbeitern hinzukriegen. In dieser Zeit hat mich das nicht belastet. Erst als es ruhiger wurde, kam der Schock, dann hatte ich plötzlich ein Ermittlungsverfahren am Hals. Es hat über ein halbes Jahr gedauert, bis das eingestellt wurde. Da fragt man sich schon, warum mache ich das? Ich bin Vater, ich habe zwei kleine Kinder, ich kann mich doch nicht für fahrlässige Tötung rechtfertigen, ich kann nichts dafür.
Schmitz-Rügamer: Wenn du sagst, du arbeitest im Pflegeheim, heißt es entweder, "bist du bekloppt" oder "das könnte ich nicht". Wir werden niedergemacht oder hochgelobt, eine realistische Darstellung gibt es kaum. Ich frage mich, warum ist die Pflege kein völlig normaler Beruf?
Görgner: Das Problem ist die Negativdarstellung. Ich habe gehofft, Corona ist eine Chance für die Pflege, weil sie endlich einmal im Fokus der Öffentlichkeit stand und wichtig war. Aber das ist heute schon wieder vergessen – oder es sind nur Hiobsbotschaften interessant. Was in der Pflege gut läuft, will kein Mensch lesen oder hören. Das Schlimme ist: Hochmotivierte Mitarbeiter lassen sich davon runterziehen und glauben mittlerweile selbst, dass die Pflege ein schlechter Beruf ist.
Schmitz-Rügamer: Das ist aber nicht so. Auch die Behauptung, dass die Bezahlung in der Pflege so schlecht sei, das stimmt nicht.
Görgner: Die Erwartungshaltung bei Bewerbern ist extrem. Manche kommen mit der Vorstellung, sie arbeiten nur noch von Montag bis Freitag und nur im Frühdienst. Aus der Not heraus, stimmst du da als Leiter vielleicht einmal zu, weil du sonst gar keinen Mitarbeiter findest. Nur generierst du damit in deinem bestehenden Team Frust. Wenn ich solche Zugeständnisse einem Mitarbeiter mache, muss ich sie eigentlich allen einräumen. Genau diese Diskussion frisst mich aktuell auf.
Görgner: Wenn eine anonyme Beschwerde beim MDK eingeht, muss ihr nachgegangen werden und es kommt zu einer anlassbezogenen Prüfung der Einrichtung. Manchmal machen uns Angehörige so bewusst das Leben schwer, weil sie bei uns den Fehler für etwas suchen, das sie selbst nicht leisten können. Das kann dich als Leitung an den Rand des Wahnsinns bringen.
Schmitz-Rügamer: Ich finde, es ist nicht in Ordnung, dass jeder anonym eine Anzeige beim MDK stellen kann und wir daraufhin automatisch geprüft werden.
Görgner: Das betrifft ja nicht nur Anzeigen beim MDK. Als Einrichtungsleiter werden wir öfter angezeigt, weil wir quasi für die Einrichtung stehen. Bei mir erfolgte die letzte Anzeige wegen nicht geschnittener Fingernägel. Das sind Momente, in denen man resignieren könnte. Zum Glück haben wir jedoch in der Mehrzahl tolle Angehörige und Bewohner, die das, was wir leisten, schätzen.
Was muss sich ändern?
Görgner: Aus meiner Sicht muss sich die gesellschaftliche Grundhaltung der Pflege gegenüber ändern. Es braucht Wertschätzung. Denn der Beruf, die Arbeit mit Menschen, das ist erfüllend. Ich erinnere mich bis heute an die Situation, in der ich wusste, das mache ich: Damals war ich im Winter als Zivildienstleistender in einem Pflegeheim und habe einer bettlägerigen Bewohnerin, die auf keinerlei Ansprache mehr reagiert hat, einen Schneeball über den Arm gerieben – und sie hat vor Freude eine Träne vergossen. Das war für mich das Zeichen, du kannst etwas bewegen. Es sind nicht die "Bigs", sondern Kleinigkeiten, in denen man als Mensch etwas geben kann.
Schmitz-Rügamer: Das merkt man ganz besonders auch im Sterbeprozess. Wenn unsere Bewohner am Ende sagen: "Ich weiß, dass Sie auf mich aufpassen, dass ich gut aufgehoben bin und gehen kann". Wenn du einem Menschen dieses Gefühl gegeben hast, dann hast du alles richtig gemacht.
Das heißt nicht den Prüfapparat in gange setzen.
Wer seine Angehörigen selbst nicht pflegen will, der hat auch keinen Anspruch auf irgendetwas.
Wer nicht Frau genug ist und seinen Namen bei einer Anzeige zu nennen, der hat auch keinen Anspruch.
Wie sagt man so schön, der schlimmste Mann im Land, das ist der Denuntiant.
An alle Pflegekräfte glaubt mir, ihr macht einen tollen Job.
Warum hört ihr auf diejenigen die negativ über euch sprechen?