
Tritt ein Pflegefall in der Familie ein, stehen Angehörige plötzlich vor riesigen Herausforderungen. Wie und wo beantragt man den Pflegegrad? Wie läuft die Begutachtung des Pflegebedürftigen ab und wie sollten sich Angehörige und die Betroffenen selbst dabei verhalten? Und was, wenn der Pflegegrad nicht reicht – lohnen sich dann Klagen? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Wie und wo beantragt man den Pflegegrad?
Der Pflegegrad kann formlos bei der Pflegekasse beantragt werden – per Anruf, Mail, Fax oder Brief. "Es reicht im Prinzip der einfache Satz: Hiermit stelle ich einen Antrag auf einen Pflegegrad", sagt der Würzburger Pflegeberater Markus Oppel. Die Pflegekasse ist grundsätzlich bei der Krankenkasse angesiedelt. Privatversicherte müssen sich an die private Pflegeversicherung wenden.
Bei manchen Kassen müsse nach dem formlosen Antrag noch ein Formular ausgefüllt werden, so Oppel. Meist funktioniere das digital. Dabei würden neben den persönlichen Daten genauere Angaben zu den beantragten Pflegeleistungen abgefragt.
Welche Pflegegrade gibt es?
Es gibt fünf Pflegegrade – von geringen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (Pflegegrad 1) bis zu schwersten Beeinträchtigungen mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (Pflegegrad 5). Welcher Pflegegrad vorliegt, wird bei einer Begutachtung des Pflegebedürftigen zuhause festgestellt. Dabei schätzen Gutachter mittels eines Punktesystems die Einschränkungen ein.
Wer stuft die Betroffenen ein?
"Die Einstufung erfolgt bei einem Hausbesuch", sagt Pflege-Experte Markus Oppel. Gutachter nutzen dafür das sogenannte Begutachtungsinstrument, einen umfangreichen Fragenkatalog mit sechs Modulen.
Bei gesetzlich Versicherten übernehmen Gutachter des Medizinischen Dienstes die Einstufung, meist sind das laut Oppel speziell ausgebildete Pflegefachkräfte. Bei privat Versicherten erfolgt die Begutachtung durch Gutachter des medizinischen Dienstes der privaten Pflege-Pflichtversicherung Medicproof.

Wie funktioniert die Begutachtung?
Die Gutachter betrachten sechs Lebensbereiche (Module), erklärt Pflegeberater Oppel. Sie erfassen dabei körperliche, geistige und psychische Einschränkungen anhand von 64 unterschiedlichen Fragestellungen.
Zum Beispiel wird im ersten Modul auf die Mobilität geschaut: Kann sich eine Person noch ohne Hilfe fortbewegen und ihre Körperhaltung ändern? Im zweiten Modul geht es um kognitive und kommunikative Fähigkeiten, im dritten Modul um Verhaltensweisen und psychische Problemlagen und im vierten Modul um Selbstversorgung wie Waschen, Essen oder Trinken. Im fünften Modul wird die Bewältigung von krankheitsbedingten Anforderungen überprüft, im sechsten Modul die Gestaltung des Alltagslebens.
Für all diese Kriterien werden laut Medizinischem Dienst Punkte vergeben, wobei die einzelnen Module je nach Relevanz im Alltag unterschiedlich gewichtet sind. Der Pflegegrad ergibt sich aus dem Gesamtpunktwert.

Können alle körperlichen und geistigen Einschränkungen mit den Fragen erfasst werden?
Das Bewertungssystem insgesamt sei hoch komplex, sagt Experte Oppel. Die Gutachter würden speziell geschult. Dennoch sei es zum Beispiel schwierig, Menschen mit Demenz richtig einzuschätzen. "Erkrankte sind vormittags oder am Morgen, wenn die Begutachtung stattfindet, oft noch ganz gut beieinander – bauen aber im Laufe des Tages ab", sagt Oppel. Deshalb sei es sinnvoll, als Angehöriger bei der Begutachtung dabei zu sein und gerade solche Punkte explizit anzusprechen.
Wie können sich Angehörige und Betroffene auf die Einstufung vorbereiten?
Viele Menschen hätten Angst vor der Begutachtung, sagt Oppel. "Aber das ist unnötig." Sein Rat: "Hilfe von Pflegeberatern in Anspruch nehmen und die Fragen mit ihnen vorab durchgehen". Sobald ein Antrag auf Pflegeleistungen gestellt wurde, hat man gesetzlich Anspruch auf eine Pflegeberatung.
Im Internet finde man "etwa 100 verschiedene Pfleggrad-Rechner", sagt Oppel. Die Ergebnisse seien aber meist nur bei teuren Rechnern sehr gut.
Was sind die häufigsten Fehler bei der Begutachtung?
Sich besonders gut darzustellen, weil man nicht gebrechlich wirken will – oder umgekehrt sich besonders hilfsbedürftig verhalten, um möglichst viel Geld zu bekommen: "Das sind die zwei Hauptpunkte", sagt Pflegeberater Markus Oppel. Vor allem das Zusammenreißen erlebe er oft, nicht nur bei Hochbetagten, sondern auch bei Kindern mit hohem Pflegebedarf. "Deswegen ist es so wichtig, dass die Betroffenen bei der Begutachtung nicht allein sind."
So gebe beispielsweise eine demente Person wahrscheinlich an, sie könne sich natürlich allein waschen – auch wenn sie bei der Körperhygiene Hilfe benötige. Oppel rät deshalb: "Bei der Begutachtung sollte immer ein Angehöriger dabei sein, der sich mit der Pflegesituation auskennt und gegebenenfalls korrigieren kann, wenn eine Angabe des Betroffenen nicht stimmt". Ein schlechtes Gewissen müsse deshalb niemand haben. "Die Gutachter sind geschult, das zu sehen, zu verstehen und nachzuvollziehen."
Gleichzeitig warnt der Experte davor, die Situation schlechter darzustellen als sie ist. "Das sehen Gutachter – man sollte hier wirklich ehrlich sein."
Das Ergebnis der Begutachtung entspricht nicht den Erwartungen – was kann man tun?
Wenn der festgelegte Pflegegrad nicht ausreicht, kann man innerhalb eines Monats nach Erhalt des Bescheids Widerspruch bei der Pflegekasse einlegen. Möglich ist auch, dass das Gutachten zum Zeitpunkt der Erstellung korrekt war – sich der Zustand der pflegebedürftigen Person danach aber verschlechtert hat. "In diesem Fall schreibt man keinen Widerspruch, sondern einen Höherstufungsantrag", sagt Pflegeberater Oppel. Dieser laufe genauso ab wie der Erstantrag bei der Pflegekasse.
Häufige seien Diagnosen nicht ausreichend dokumentiert, ist Oppels Erfahrung: "Manchmal weigern sich Menschen, für eine Demenzdiagnose zum Neurologen zu gehen." Im Arztbrief des Hausarztes stehe dann nur der Verdacht auf Demenz. Gutachter könnten Situationen anhand einer fachärztlich gesicherten Diagnose jedoch deutlich besser beurteilen.
Wo kann man gegen die Einstufung Widerspruch einlegen?
Ein Widerspruch richtet sich an die Pflegekasse. Im Widerspruchsverfahren überprüft diese ihre Entscheidung. Sollte sie keine Entscheidung treffen können, wird der Fall laut Pflege-Experte Oppel einem erfahrenen Widerspruchsgutachter beim Medizinischen Dienst vorgelegt. Dieser prüfe erst nach Aktenlage "und wenn kein eindeutiges Ergebnis abzulesen ist, erfolgt eine erneute Begutachtung".
Wird der Einwand angenommen, erhält man laut Verbraucherzentrale einen positiven Bescheid, die sogenannte Abhilfe. Lehnt die Pflegekasse den Widerspruch ab, erlässt sie den sogenannten Widerspruchsbescheid.
Wie erfolgsversprechend sind Klagen vor Gericht?
Klagen seien "die Ultima Ratio", sagt Oppel. Sie kämen nicht allzu häufig vor. Denn zuvor hätten Betroffene noch die Möglichkeit, eine Schiedsstelle, den sogenannten Widerspruchsausschuss, zu kontaktieren. "Dort kann man mit Stellungnahmen und neuen Arztbriefen punkten." Erst danach komme eine Klage in Frage.
Die Chancen stünden vor dem Sozialgericht stünden relativ gut, sagt Oppel. Ein Sozialgerichtsverfahren im Bereich Pflege sei kein herkömmliches Gerichtsverfahren – stattdessen erfolge "eine erneute Begutachtung, die vom Richter beauftragt ist". Die neue Begutachtung führen unabhängige Pflegesachverständige durch. Dafür hätten sie mehrere Stunden Zeit, sie "prüfen sehr intensiv", sagt Oppel. Das Gutachten des Pflegesachverständigen werde dann vom Richter als Ergebnis angenommen, dem Urteil werde im Regelfall von der Kasse gefolgt.
Das Problem: Die Wartezeit auf einen vom Gericht bestellten Begutachtungstermin sind häufig lang. "Ich erlebe ständig Fälle von acht bis zwölf Monaten", sagt Oppel. Wer das lange Warten scheut, könne eine Pflegeberatung durchführen lassen. "Wenn diese Fachleute sagen, vor Gericht besteht keine Chance, macht der Klageweg auch wenig Sinn."