Früher hat er nur Hemden getragen, Hemd und Anzug, oft Krawatte. Jetzt hat er nur noch Pullover an, der Knöpfe wegen. Und Jogginghosen, weil die halt weder Knöpfe noch Reißverschlüsse haben. Mit Knöpfen und Reißverschlüssen kommt der alte Herr nicht mehr zurecht. Und seine Frau, die den knapp 80-jährigen dementen Ehemann nach einer schweren Erkrankung seit Jahren daheim im Landkreis Würzburg pflegt, spart sich mittlerweile die Knöpfe.
Sie hat genug zu tun. Hilft ihm morgens nicht nur beim Anziehen, sondern auch beim Waschen oder Zähneputzen. Begleitet den Ehemann zu Arztterminen. Natürlich muss sie auch einkaufen. Davor hat sie besonderen Horror: im Supermarkt arbeitet sie ja nicht nur ihren Einkaufszettel ab. Sondern muss auch ständig aufpassen, dass der alte, verwirrte, kranke Mann neben ihr, der Mann, der früher ohne Anzug und Krawatte nicht aus dem Haus gegangen wäre – dass dieser Mann ihr nicht wegläuft.
Die Frau kann eigentlich nicht mehr. Sie bräuchte einen Heimplatz für ihren Mann – aber Heimplätze waren nie schwieriger zu finden als jetzt.
Seniorenheim St. Thekla: Bis zu 20 Angehörige rufen täglich an, um nach einem Heimplatz zu fragen
Auf dem Schreibtisch von Johannes Amrhein türmen sich diverse Papierstapel, lagern etliche Handys, Computer, Stifte, FFP-2-Masken. Und noch mehr Papierstapel – alles Arbeitsaufträge, die Amrhein nach seinem eigenen System abarbeitet. Amrhein leitet das Caritas-Seniorenheim St. Thekla in Würzburg. Er ist der Mann, den alle gern sprechen würden – um an Heimplätze zu kommen.
"Es gibt Tage, da rufen allein zehn, zwanzig Angehörige an, die einen Heimplatz suchen", sagt Amrhein. Er hat eine Fachkraft, die diese Anrufe entgegennimmt und verwaltet; aber er bekommt die verzweifelte Nachfrage natürlich mit – übrigens nicht nur aus der Region, sondern sogar auch aus anderen Bundesländern.
Und es sind ja nicht nur die Angehörigen, die suchen: "Es sind auch Kliniken. Da gibt es ganze Stationen, voll belegt mit alten Menschen, die austherapiert sind und die teuren Krankenhausbetten eigentlich nur blockieren."
Mit der dringenden Bitte nach Heimplätzen meldeten sich auch Hausärzte, die Plätze für Patienten suchten und Reha-Kliniken, die Patienten abgeben wollten. Wie viele Anrufe kommen denn so im Schnitt insgesamt pro Tag? 20 vielleicht? 30? Noch mehr? Das sei unterschiedlich, sagt Amrhein, er will sich da nicht festlegen. "Nur so viel: Die Anrufe kommen immer dann, wenn der Stress am größten ist."
Regierung von Unterfranken: Es liegen keine aktuellen Statistiken vor
Die Frage, wie viele der insgesamt 13.621 vollstationären Altenheimplätze in Unterfranken aktuell wegen Personalmangels nicht belegbar sind, kann die Regierung von Unterfranken nicht beantworten. Der Personalmangel treffe "Rückmeldungen nach im Besonderen auch die Altenpflegeheime", so Sprecher Johannes Hardenacke. Allerdings lägen der Regierung von Unterfranken keine aktuellen Statistiken vor.
Auch viele unterfränkische Kreise oder Städte haben – trotz vorhandener Heimaufsichten – dazu offenbar keine Zahlen. Das zumindest steht in vielen Antwortschreiben auf die Anfragen dieser Redaktion. Die Stadt Würzburg allerdings teilt mit, dass aktuell rund 300 von 1802 Pflegeplätzen nicht belegbar sind. Fehlbelegungsquote: 16 Prozent. Und der Landkreis Main-Spessart hat schon vor Wochen kommuniziert, dass von 1443 vollstationären Altenheimplätzen rund 300 Plätze wegen Personalmangels flach fallen. Fehlbelegungsquote dort: 20,7 Prozent.
Unterfränkische Caritas-Geschäftsführung: Fehlbelegungsquote von 13 Prozent
Darf man diese Zahlen hochrechnen, eine unterfränkische Quote abschätzen? Georg Sperrle, Geschäftsführer der unterfränkischen Caritas-Einrichtungen, macht das: "Unsere Caritas-Altenheime haben rund 1000 vollstationäre Plätze, davon sind 870 belegt und 130 Plätze wegen Personalmangels frei." Für den großen Anbieter Caritas wäre das eine Fehlbelegungsquote von 13 Prozent.
Sperrle kennt die Verantwortlichen anderer Heimträger, ist sehr gut vernetzt. Er sagt: "Ich gehe davon aus, dass unterfrankenweit und trägerübergreifend gilt, dass rund 15 Prozent aller Altenheimplätze wegen Personalmangels aktuell nicht belegt werden können." Stimmen Sperrles Schätzungen, dann liegen in Unterfranken 2043 von 13.621 vollstationären Altenheimplätzen brach.
Frau sucht Heimplatz für ihren Mann: Bei Demenzpatienten ist das besonders schwer
Der kranke alte Herr, der sich früher ab und an ein Gläschen Wein pro Tag genehmigt hat, hat angefangen, zu viel zu trinken – weil er vergisst, dass und wieviel er zuvor getrunken hat. Seine Frau versteckt den Alkohol jetzt. Auch die Wohnungsschlüssel versteckt sie: sonst geht ihr Mann spazieren und findet nicht mehr heim.
Die Ehefrau hat angefangen, in Heimen anzurufen, lässt ihren Mann auf diverse Wartelisten setzen, wird überall vertröstet. Würde sie in Würzburg in St. Thekla anrufen, sie bekäme dort keinen Platz: Demenzpatienten nimmt dieses Heim nicht auf. Immerhin gibt es Aussicht auf einen Tagespflegeplatz in einer Einrichtung, die auf Demenzpatienten spezialisiert ist.
Seniorenheim St. Thekla: Auch Pflegekräfte aus dem Ausland sind schwer zu bekommen
St. Thekla, modernisiert, zentral gelegen, ist das Flaggschiff unter den Caritas-Altenheimen. Doch auch dieses Heim hat Personalnot; acht der 103 vollstationären Betten werden aktuell nicht genutzt. "Würden wir die Betten belegen, mit Patienten mit Pflegegrad 5 etwa, dann müssten wir auch neues Personal anwerben", sagt Heimleiter Amrhein. "Und das können wir nicht. Der Markt ist total leergefegt."
Natürlich suche man weiter nach Personal, aber Stellenausschreibungen oder Flyer brächten wenig. Mundpropaganda sei erfolgversprechender: "Wenn da eine Pflegekraft der anderen erzählt, dass die Arbeitsbedingungen bei uns gut sind, dann kann es sein, dass sich jemand bei uns bewirbt."
Eine Chance bieten laut Amrhein auch Auslandsanwerbungen. Über das Triple-Win-Programm der Arbeitsagentur sind etliche philippinische Krankenschwestern in Caritas-Einrichtungen gekommen: "Ein Riesengewinn." Aktuell versuche die Caritas, mexikanische Krankenpflege-Fachkräfte anzuwerben. "Ist aber schwierig, weil die Leute nur einreisen dürfen, wenn sie nachweisen, dass die das Sprachniveau B1 haben." Von den ursprünglich rund einem Dutzend Interessenten seien deshalb einige abgesprungen. Der Deal mit den mexikanischen Kräften hänge noch in der Schwebe.
In Unterfranken schließen einzelne Altenheime – und die Lage wird schlimmer
Einzelne Altenheime in Unterfranken schließen. Es gibt Berichte über aggressive Personal-Abwerbeversuche privater Träger. Leiharbeit wird häufiger. Verlegungen alter, auffälliger Senioren in die Psychiatrie auch.
Glaubt man Caritas-Geschäftsführer Georg Sperrle, wird die Situation in den nächsten Jahren noch viel schlimmer, wenn Pflegekräfte aus der geburtenstarken Babyboomer-Generation zuhauf in Rente gehen. Bayerns Gesundheits- und Pflegeminister Klaus Holetschek fordert jetzt eine Pflege-Revolution.
Die Leidtragenden sind die Bewohner bzw. Patienten, weil die Politik und Krankenkassen alles kaputtsparen und auch viele private Träger sparen…