
Wirklich bewusst wurde es Norbert Görres beim Stramu. Die Würzburger Innenstadt wuselte, Menschentrauben drängten sich um Straßenkünstler. Laut, lustig, lebendig. Der 35-Jährige stand mit seiner Frau im Zuschauerpulk eines Zauberers, staunte, applaudierte. Dann rief der Magier, wie unbeschwert doch dieser Festivalabend sei. "Da hat es Klick gemacht", sagt Görres. "Da habe ich gedacht: verdammt." Die Unbeschwertheit hatte er zwei Tage zuvor verloren.
Es war der 7. September 2023, ein Donnerstag. Norbert Görres saß in einer neurologischen Praxis in Würzburg, vor sich MRT-Bilder seines Gehirns. Weiß auf schwarz zeigten sie eine Veränderung, einen Tumor. Geformt "wie eine kleine Weißwurscht", sagt Görres heute. Die flapsigen Worte musste er erst wieder finden. Damals war das Bild ein Schock.
Die Diagnose Hirntumor verändert das Leben von Norbert Görres
Sicher lassen sich rückblickend manche Symptome mit dem Tumor in Verbindung bringen. Vergesslichkeit. Unruhe. Konzentrationsschwierigkeiten. Alltagsbeschwerden, die Görres zunächst auf Stress schob. Erst 2022, bei einem längeren Auslandsaufenthalt, seien plötzlich "unmögliche Déjà-vus" aufgetreten, immer öfter spielte ihm "der Kopf etwas vor".
Im Bett hatte er das Gefühl, zu schweben. Er roch Feuer, obwohl nichts brannte. "Es waren diffuse Anzeichen", sagt Görres. Er begann, darüber Tagebuch zu führen, ging mit der Liste zum Hausarzt. Der wusste ihm nicht zu helfen, erst neun Monate später bekam er einen Termin beim Neurologen. Dann ging alles ganz schnell.
Auf das MRT folgte eine Überweisung in die Neurochirurgische Klinik der Uniklinik Würzburg. Dort die Diagnose: Verdacht auf einen Hirntumor, wie sich später bestätigen sollte, ein sogenanntes Oligodendrogliom WHO°2. "Besser therapierbar als viele andere, aber trotzdem führen diese Tumore irgendwann zum Tod", sagt die Neurochirurgin und Oberärztin Dr. Almuth Friederike Keßler.
Worte, die ein Leben verändern. Die Patienten erstarren lassen. Die Ärzte Kraft kosten. "Wir wissen, dass bei solchen Gesprächen maximal ein Drittel der Informationen bei den Patienten ankommt", sagt Keßler. Norbert Görres wurde damals von seiner Frau begleitet. "Da hat unser Optimismus erstmal einen Knacks bekommen", erinnert er sich. "Das war ein harter Tag."
Weniger als zehn Patientinnen und Patienten mit Oligodendrogliom WHO°2 gibt es an der Würzburger Uniklinik pro Jahr. Die Tumorart ist selten. Klassischerweise werde bei Betroffenen erst der Tumor entfernt, danach folge, abhängig von den Befunden, eine Bestrahlung und eine Chemotherapie, sagt Keßler. Insbesondere die Bestrahlung könne die kognitiven Fähigkeiten stark beeinträchtigen. Gerade für junge Patienten wie Norbert Görres sei das schwer.
Die Würzburger Tumorexperten rieten dem 35-Jährigen deshalb zur Teilnahme an einer Studie des Uniklinikums Heidelberg. "Dabei wird geprüft, ob auf die Bestrahlung bei Einsatz einer bestimmten Chemo-Kombination verzichtet werden kann", erklärt Keßler. Ein Risiko? Eine Chance? Norbert Görres entschied sich dafür.
Am 7. Dezember 2023 wurde der 35-Jährige operiert, genau zwei Monate nachdem er den Tumor zum ersten Mal auf dem MRT-Bild gesehen hatte. Gut zehn Stunden dauerte der Eingriff.
Keßler operierte gemeinsam mit einem Kollegen, dem Neurochirurgen und leitenden Oberarzt Prof. Mario Löhr. Der Eingriff sei "lang und schwierig" gewesen, sagt die 44-Jährige. "Der Tumor war sehr ausgedehnt und schwer zu differenzieren, sprich kaum von umliegendem Gehirngewebe abgrenzbar."
Bei der Operation konnten 80 bis 85 Prozent des Gehirntumors entfernt werden
Genau das sei die größte Herausforderung: "Man will nicht mehr entfernen als zwingend notwendig". Bei Norbert Görres "entsprach die reale Größe des Tumors nicht zu 100 Prozent dem MRT-Bild", sagt Keßler. "Am Ende konnten wir etwa 80 bis 85 Prozent des Tumors entfernen", sagt Keßler. Weniger als erhofft. Aber genug?

Die Frage nach der Prognose tut weh. Sie zerstört oder macht Hoffnung. "Wir nennen selten Jahreszahlen", sagt Keßler. Auch nicht bei Norbert Görres. Zu viele Variablen beeinflussen den Verlauf. Niemand wisse, wie die Therapien individuell anschlagen. Wie sich die verbliebenen Tumorzellen im Gehirn entwickelten. Welche Fortschritte die Forschung in den nächsten Jahren mache. Keßler zögert, sagt dann: "Ein normales Durchschnittsalter wird er wohl nicht erreichen".
Keßler arbeitet seit 17 Jahren an der Uniklinik Würzburg. "Ich kann bei den meisten Patienten sagen, wo sie Weihnachten feiern, wie viele Kinder sie haben." Emotionale Distanz funktioniert kaum, wenn es um Leben und Sterben geht.
"Man kennt die Patienten, ist ihnen nahe. Man muss es ertragen und man muss es wollen", sagt Keßler. "Dass uns viele nach wenigen Jahren unter der Hand wegsterben und man ihnen beim Verfall zusehen kann, das ist hart."
Norbert Görres kennt die Statistiken. "Es kann sein, dass ich 30 Jahre ohne Tumor bleibe oder dass er auf dem nächsten MRT-Bild wieder da ist." Die Stimme des 35-Jährigen ist ruhig, statt Angst oder Panik überwiege bei ihm eine Art "stoischer Gelassenheit" im Umgang mit der Erkrankung. Er sei Optimist, sagt er. "Wenn ich etwas nicht ändern kann, versuche ich, es anzunehmen und mich durchzukämpfen."
Görres zuckt mit den Schultern. Am Ende sei das Kopfsache, wie im Sport, wie beim Radfahren: "Wenn man bei minus 10 Grad am Berg von Schneesturm und Wind gebeutelt wird und trotzdem weiterfährt, dann weiß man in jeder Situation: Alles geht vorbei."
Die Erfahrungen als Langstrecken-Radfahrer helfen Görres im Kampf gegen den Tumor
Görres hat das gelernt und verinnerlicht. Er ist Mountainbiker, Radfahren ist sein Leben. "Wenn ich auf dem Rad sitze, geht es dem Hirn gut", sagt Görres. Noch immer. Auf dem Mountainbike würden permanent alle Sinne gefordert, der Kopf "lüftet aus".
Nach der Gehirn-Operation half ihm genau das. Nur einen Monat nach dem Eingriff saß er wieder auf dem Indoor-Rad. Das Treten fiel schwer, die Luft fehlte, die Kraft auch. Trotzdem merkte er: Das macht ihn glücklich, das will er zurück.
Eigentlich fahre er schon immer Rad, sagt Görres. Anfangs trat er in seinem Heimatort Riedenberg im Landkreis Bad Kissingen mit einer "Altherrentruppe" in die Pedale. Als Teenager fuhr er vor allem Langstreckenrennen, "halbprofessionell", mit Lizenz und ein bisschen Sponsoring. Während des VWL-Studiums in Freiburg absolvierte er bis zu zwölf Rennen pro Jahr. Besonders in steilem Gelände fühlte er sich wohl.

2013 startete Görres bei der Mountainbike Marathon Europameisterschaft in Singen, bekam "eine Medaille fürs Mitfahren". Der 35-Jährige grinst. Profi sei er nie gewesen, eher "ambitionierter Hobbysportler". 2014 nahm er am 24-Stunden-Rennen in München im Olympiapark teil. Die Erfahrung aus den Wettkämpfen nutze ihm enorm, sagt er. Im Prinzip gehe er die Krankheit wie ein 24-Stunden-Rennen an. Statt um Bestzeiten kämpft er eben um Normalität.
Der 35-Jährige hat mehrere Monate Chemotherapie hinter sich. Das hat Kraft gekostet und zwölf Kilo Gewicht. Die enge Hose schlackert um die Beine, längere Strecken zu laufen strengt ihn an. Auch, weil er nach der langen OP mit einem Nervenschaden im Fuß kämpft.
Ein halbes Jahr vor der Gehirn-Operation haben Norbert Görres und seine Frau geheiratet
Sicher sei sein Alltag heute anders. Mühsamer. Er gehe zum Supermarkt, zur Physiotherapie, in die Uniklinik, aber all das strenge wahnsinnig an. Den Körper und den Kopf. Das Konzentrieren falle ihm nach wie vor schwer, sagt Görres. Er schreibe sich deshalb alles auf. "Wenn ich eine Mail durchlese, habe ich sie eigentlich schon vergessen." Sein großes Ziel, wieder als Qualitätsmanager zu arbeiten, sei noch weit entfernt. Allein vom Nachdenken werde ihm oft schlecht, teils quälen ihn falsche Wahrnehmungen.
Mut machen "die guten Tage", an denen der Kopf "fast normal" funktioniert. Die Hoffnung auf neue Medikamente, auf wissenschaftlichen Fortschritt. Und das Leben im Jetzt. "Das Wichtigste ist das Weitermachen", sagt Görres. "Man weiß nicht, wie viele Tage man hat. Und jeden Tag, den man sich später für Dinge entscheidet, ist vielleicht einer, den man weniger damit verbringen kann."
Erst im Mai 2023, ein halbes Jahr vor der OP, hatten er und seine Frau geheiratet, darüber nachgedacht, ein Haus zu bauen, eine Familie zu gründen. Normalität mit Mitte 30. Heute seien sie froh, sagt Görres, unabhängig und flexibel zu sein.
Alle zwei Wochen muss Görres in die Würzburger Uniklinik zur Blutkontrolle. Alle drei Monate wird ein MRT gemacht. Der 35-Jährige kennt jeden Befund, all seine Arztbriefe. Manchmal sucht er gezielt nach Informationen über Hirntumore oder neue Medikamente. Er gehöre zu der Gruppe von Patienten, die mit ihrer Erkrankung am besten umgehen könnten, "wenn sie so viel wie möglich wissen", sagt Ärztin Keßler. Und: "Der Sport, das Radfahren, helfen ihm extrem."
Norbert Görres will auch in Zukunft Radrennen fahren
Ob sich seine Beschwerden noch bessern, sei unklar. "Aus schulmedizinischer Sicht haben wir nichts, um ihm zu helfen", sagt Keßler. "Wir können ihm nichts implantieren, um es besser zu machen, wir können ihm kein Medikament geben. Aber wir wissen aus vielen Studien, dass kognitives Training etwas bringt und sportlich aktive Patienten eine bessere Prognose haben."
Der Grat zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit ist schmal. Aber aufgeben? Norbert Görres schüttelt den Kopf. Für ihn gibt es nur einen Weg: weiter. Der 35-Jährige sitzt wieder fast jeden Tag auf dem Rad. Im Herbst fuhr er bei "kleinen" Mountainbike-Rennen mit, im Landkreis Würzburg und auf den Kreuzberg. Seine Augen leuchten plötzlich. Auch in Zukunft will er Rennen fahren. Vielleicht sogar bei größeren Wettkämpfen starten. Und irgendwie den Kopf frei strampeln.
Danke dafür, Frau Schmitt