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Himmelstadt
Radfahren fürs Leben: Wie der Ausdauersport für den 80-jährigen Richard Kohlhepp nach einem Schicksalsschlag zur Therapie wurde
In Summe halten Elfriede und Richard Kohlhepp 43 bayerische Meistertitel im Radwandern. Wichtiger ist ihnen aber die Bewegung selbst, die dabei hilft, einen Rückschlag zu verarbeiten.
Die Einfahrt der Kohlhepps in Himmelstadt. Hier beginnt und endet jede einzelne Tour des 80-Jährigen. In manchen Jahren sind das über 300 Tagesfahrten.
Foto: Johannes Kiefer | Die Einfahrt der Kohlhepps in Himmelstadt. Hier beginnt und endet jede einzelne Tour des 80-Jährigen. In manchen Jahren sind das über 300 Tagesfahrten.
Felix Hüsch
 |  aktualisiert: 15.08.2024 02:55 Uhr

Wer bei Elfriede und Richard Kohlhepp in der Unteren Ringstraße in Himmelstadt die Türschwelle im ersten Stock passiert, findet sich in einem ungewöhnlich dekorierten Hausflur wieder. Nahezu jeder Quadratzentimeter der Wand ist mit Urkunden zugepflastert – größtenteils ausgestellt vom Radfahrverein Edelweiß Himmelstadt. Die Auszeichnungen belegen unter anderem zwei Alpenüberquerungen von Richard Kohlhepp sowie zahlreiche erfolgreiche Teilnahmen am Rhön-Radmarathon, der sich über eine Strecke von deutlich über 200 Kilometer und mehrere tausend Höhenmeter zieht.

An der gegenüberliegenden Wand hängen ein paar hellblaue Urkunden. 2021 beglückwünschte der Radfahrverein Richard Kohlhepp zu einer "herausragenden sportlichen Leistung im Radwandern von 450.000 Kilometern". Inzwischen habe er laut eigener Buchführung fast die halbe Halbe-Million-Kilometermarke geknackt, erzählt Kohlhepp und breitet die Liste mit den seit 1994 gefahrenen Jahreskilometern auf dem Tisch aus.

23 bayerische Meistertitel in der Altersklasse Ü60

Das Prinzip beim Radwandern ist einfach. Im Laufe eines Jahres können Fahrerinnen und Fahrer in beliebig vielen Tagestouren Kilometer auf einem Rad ihrer Wahl zurücklegen und diese dokumentieren. Die knapp 500.000 zurückgelegten Kilometer auf dem Rennrad sind bis dato Kohlhepps sportliches Lebenswerk. Was selbst für junge Menschen unerreichbar scheint, wird umso beeindruckender, wenn man weiß, dass der 23-fache bayerische Meister in der Altersklasse Ü60 schon 80 Jahre alt ist – oder, wie er es formuliert: "Zweimal 40". 

Der Flur in der Wohnung von Elfriede und Richard Kohlhepp ist mit Urkunden aus mehreren Jahrzehnten zugepflastert. Die meisten davon wurden vom Radfahrverein Edelweiß Himmelstadt ausgestellt.
Foto: Johannes Kiefer | Der Flur in der Wohnung von Elfriede und Richard Kohlhepp ist mit Urkunden aus mehreren Jahrzehnten zugepflastert. Die meisten davon wurden vom Radfahrverein Edelweiß Himmelstadt ausgestellt.

Die Jahresliste zeigt, dass Kohlhepp 1998 und 2019 sogar jeweils über 21.000 Kilometer gefahren ist. Vor fünf Jahren absolvierte er diese Strecke in 337 Tagesfahrten, saß also gerade einmal 28 Tage nicht auf dem Sattel. "Ich fahre auch noch 10.000 Kilometer im Jahr, inzwischen aber mit dem E-Bike" wirft Richard Kohlhepps Frau Elfriede ein. Sie wird auch bald 80 und ist in der Altersklasse Ü60 bei den Frauen selbst 20-fache bayerische Meisterin im Radwandern. "Ich erledige fast alle Einkäufe mit dem Rad, wir machen nur einmal im Monat einen Großeinkauf mit dem Auto", betont Elfriede Kohlhepp, die selbst 250.000 Kilometer in der Wertung stehen hat.

"Das macht halt den Ehrgeiz aus und irgendwo auch die Sucht."
Richard Kohlhepp über die Angst vorm "Zurückstecken"

Ihr Mann fährt lieber regelmäßig auf den Kreuzberg bei Wildflecken im Landkreis Bad Kissingen. "Von Himmelstadt aus fahre ich über den Sinngrundradweg nach Wildflecken und von da aus geht es den Berg hoch", so Kohlhepp. 16 Mal ist er im vergangenen Jahr dort gewesen. Wenn er morgens um sieben Uhr startet, schafft er die Strecke von knapp 180 Kilometern hin und zurück bis abends um 18 Uhr. Bis heute ist der Kreuzberg für Richard Kohlhepp ein wichtiger Gradmesser der eigenen Fitness. "Solange ich den noch schaffe, fahre ich ihn auch. Wenn ich ihn irgendwann nicht mehr schaffe, muss ich zurückstecken", meint er.

Kreuzberg noch heute wichtiger Gradmesser

Dass zurückstecken so gar nicht sein Ding ist, zeigt aber nicht nur die bis unters Dach mit Pokalen gefüllte Glasvitrine im Esszimmer. Kohlhepp sei nie etwas gefahren, das er vorher nicht trainiert habe. "Wenn ich irgendwo abbrechen müsste, wäre das das Schlimmste, was mir passieren könnte. Das macht halt den Ehrgeiz aus und irgendwo auch die Sucht", gesteht er sich ein. Außerdem hofft er, möglichst lange ohne den Motor eines E-Bikes auszukomen.

Immer gute Laune auf Tour: In manchen Jahren saß Richard Kohlhepp von Januar bis Dezember nur wenige Tage nicht auf dem Rennrad.
Foto: Johannes Kiefer | Immer gute Laune auf Tour: In manchen Jahren saß Richard Kohlhepp von Januar bis Dezember nur wenige Tage nicht auf dem Rennrad.

Mitverantwortlich für diese kämpferische Einstellung sind auch verschiedene Schicksalsschläge in seiner eigenen Vita. Im Jahr 1991 – Kohlhepp hatte das Radfahren seit wenigen Jahren für sich entdeckt – verunglückte der älteste Sohn des Ehepaars im Rahmen einer Wehrdienst-Übung auf dem Truppenübungsplatz in Wildflecken tödlich. Nach dem Unfall ging Richard Kohlhepp zur Psychotherapie. "Das hat aber gar nichts gebracht. Das Radfahren hat stattdessen geholfen, da kannst du abschalten in der Natur", sagt er rückblickend.

Radfahren als Therapie nach Rückschlägen

Wenige Jahre später, 1994, kam der nächste Dämpfer. Diesmal ging es um die eigene Gesundheit. Nachdem Richard Kohlhepp in Karlstadt beim Radfahren von einem Auto angefahren wurde und sich einen Halswirbelbruch zuzog, hätte alles vorbei sein können. Nach der Diagnose habe er sich ärztlichen Rat von allen Seiten geholt und verschiedenste Antworten bekommen. "Die einen haben gesagt, ich kann nie wieder einen Berg hochfahren. Andere meinten, ich solle weitermachen, es sei gut für die Psyche", erinnert sich Richard Kohlhepp.    

"Das Radfahren hat geholfen. Da kannst du abschalten in der Natur."
Richard Kohlhepp über die Zeit nach dem Tod seines Sohnes

Die heute fast 500.000 gefahrenen Kilometer nehmen vorweg, wie seine Entscheidung damals ausgefallen ist. "Letztendlich habe ich es dann durch das Fahren selbst wieder geschafft, fit zu werden, ohne lange Medikamente nehmen zu müssen", sagt er. Dass ihm Ärzte vorher prognostizierten, dass er keine 100 Kilometer langen Strecken mehr fahren könnte, habe ihn zwischenzeitlich "ehrlich fertig" gemacht. 

Die Vitrine mit den Pokalen im Esszimmer bietet längst nicht mehr genug Platz für die zahlreichen Trophäen.
Foto: Johannes Kiefer | Die Vitrine mit den Pokalen im Esszimmer bietet längst nicht mehr genug Platz für die zahlreichen Trophäen.

Doch die Reise auf zwei Rädern endete auch nach dem tödlichen Unfall des Sohnes und dem eigenen Halswirbelbruch nicht und entwickelte sich nach und nach zur Therapie für Richard Kohlhepp, der anfangs mit einem "lumpigen Rad" unterwegs gewesen sei und inzwischen acht bis zehn verschiedene Rennräder gefahren ist.  

Trotz der hohen sportlichen Motivation und insgesamt 43 bayerischer Meistertitel, machen sich Elfriede und Richard Kohlhepp nicht viel aus den Pokalen und Urkunden. "Wir sehen es nicht als Wettbewerb und kriegen kein Geld dafür. Wir fahren, um fit zu bleiben", sagt Elfriede. Um die Leistungsfähigkeit auch ohne Rennrad oder E-Bike zu fördern, haben die beiden im Erdgeschoss einen Fitnessraum eingerichtet.

"Wir sehen es nicht als Wettbewerb und kriegen kein Geld dafür. Wir fahren, um fit zu bleiben."
Elfriede Kohlhepp über ihre Grundmotivation 

Als kürzlich die Nachricht eines 80-jährigen Rennradfahrers die Runde machte, der auf Tour tödlich verunglückt ist, horchten einige aus dem Umfeld der beiden kurz auf. "Viele dachten erst, es wäre vielleicht mein Mann gewesen", sagt Elfriede Kohlhepp. Der rollte aber auch an diesem Abend unbeschadet mit dem Rennrad in die Einfahrt. Dass trotzdem immer etwas passieren kann, ist den beiden nach dem Halswirbelbruch und einigen kleineren Unfällen auf insgesamt 750.000 Kilometern Strecke sehr wohl bewusst. 

 
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  • Helga Scherendorn
    Beeindruckend!
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