Der Brief kam Anfang Januar. Völlig unvermittelt. Die Kündigung des Pflegedienstes. "Da ist für uns eine Welt zusammengebrochen", sagt Uwe Herold. Die Hand seiner Frau schließt sich um seine, er senkt die Augen. "Ich bin einfach auf die Hilfe angewiesen." Darauf, dass ihn jemand beim Waschen, Duschen, Anziehen, Aufstehen unterstützt. Beim Umdrehen in der Nacht. Beim Leben. Ohne Pflege ist für den Kriminalpolizisten und seine Familie der Alltag nicht zu schaffen.
Uwe Herold ist querschnittsgelähmt. Seit einem Arbeitsunfall vor 18 Jahren kann er nicht mehr laufen, die Arme nur noch leicht heben. Aber nichts anfassen, nicht greifen, nicht allein essen oder trinken. Im Alltag bedeutet das Abhängigkeit. "Ich brauche eigentlich rund um die Uhr jemanden bei mir", sagt der 51-Jährige. Jeden Tag, seit dem 18. Juni 2005.
Drei Tage pro Woche arbeitet Uwe Herold bei der Kriminalpolizeiinspektion Würzburg
Damals war es nur die berüchtigte Sekunde, die alles für ihn verändert. Herold hatte eine Ausbildung zum Hundeführer bei der Würzburger Polizei begonnen und übte mit Kollegen und den Hunden einen Routineeinsatz, das Stöbern nach Personen. Er kletterte auf einen Baum – "und danach weiß ich nichts mehr". Am Boden liegend wachte er wieder auf, Arme und Beine spürte er nicht mehr. Nie mehr.
Zwei Monate lag Herold nach dem Unfall auf der Intensivstation. Die Diagnose Querschnittslähmung war für den sportlichen Polizisten anfangs kaum zu ertragen. Der Körper war kaputt, der Kopf funktionierte. Monatelang kämpfte er darum, wieder atmen, sprechen, sitzen zu können. Um Kleinigkeiten, um den ganz banalen Alltag. Sein Halt war die Familie, sein Ansporn der Beruf. "Ich wollte gleich danach wieder arbeiten", sagt Herold. Wieder Polizist sein.
Das hat er geschafft. Sein Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizeiinspektion im Würzburger Stadtteil Zellerau wurde umgerüstet, über Kopfbewegungen und Sprachsteuerung kann er dort am PC ermitteln. "Es ist wichtig, dazu zu gehören", sagt er. Etwas zu leisten. Normalität, so viel wie möglich.
Drei Tage pro Woche ist Herold im Dienst, von zehn bis 13.30 Uhr. Genau diese Konstellation sei jedoch problematisch. "Ich brauche Hilfe, bevor ich zur Arbeit fahre und bin damit unflexibel." Für Pflegedienste mache das seine Betreuung schwierig. "Mir ist bewusst, dass der Bedarf an Pflege vor allem bei Senioren sehr hoch ist. Dennoch gibt es auch jüngere Menschen wie mich, die einen Pflegedienst unbedingt brauchen." Menschen, die mitten im Berufsleben stehen, die an feste Zeiten gebunden sind, die einen Partner und Kinder haben – und diese doch nicht vereinnahmen können und wollen.
Dreimal täglich kam ein Pflegedienst, sieben Tage die Woche
Seine beiden Söhne und die Tochter, sagt Herold, hätten durch sein Schicksal schon genügend gelitten. "Da kann man nicht sagen, dass sie mich jetzt auch noch anziehen und waschen sollen." Stattdessen kam dreimal täglich ein Pflegedienst, sieben Tage die Woche. Die Pflegekräfte halfen ihm früh aus dem Bett, bei der Körperhygiene und in den Rollstuhl. Abends der umgekehrte Ablauf. Kleine Aufgaben, in der Summe zu groß für einen, für den Partner.
Seine Frau sei trotzdem voll eingebunden. Sie erledige seit Jahren "alles, was wir früher geteilt haben", sagt Herold. Den Haushalt, den Einkauf, Gartenarbeit. Sie kümmerte sich um die Kinder, als diese noch klein waren. Ihren Beruf hat Bianca Herold lange schon aufgegeben. "Wenn sie nicht mehr kann, funktioniert nichts mehr." Uwe Herold stockt, sucht mit den Augen den Blick seiner Frau. Dann spricht er weiter: "Es ist einfach so wichtig für uns, dass wir einen Pflegedienst haben – dass sie entlastet wird."
So war es die vergangenen 18 Jahre. Dann kam die Kündigung. "Ein Schock", sagt Bianca Herold. "Wir wussten nicht, wie es weiter gehen soll." Mit der Hand krault sie abwesend einen der beiden Yorkshire Terrier. Der Apfelkuchen, den sie gebacken hat, liegt fast unberührt auf den Tellern. "Es hieß zunächst, dass die Betreuung am Abend eingestellt wird, vier Wochen später dann der Frühdienst." Der Grund: Personalmangel.
Ambulante Pflegedienste können die Nachfrage kaum bewältigen
Weder in Unterfranken noch bayern- oder bundesweit ist das ein Einzelfall. Die ambulante Pflege ist am Limit. Immer mehr Menschen brauchen Unterstützung, immer weniger Pflegekräfte sind dafür verfügbar. Eine Lösung ist nicht in Sicht, dabei werden über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland daheim versorgt.
Fragt man bei Trägern in der Region nach, hört man Ratlosigkeit und Verzweiflung. Personal fehlt, Fahrten werden schlecht vergütet, weite Wege lohnen sich gerade auf dem Land kaum. Neue Kunden aufnehmen können die wenigsten Dienste, immer wieder müssen bestehende Verträge gekündigt werden. Wie bei der Familie Herold.
"Aber für uns musste es weitergehen", sagt Uwe Herold. "Ich muss ja trotzdem duschen, leben, arbeiten. Und Geld verdienen, um das Haus abzubezahlen." Er zuckt mit den Händen. Der Druck, der in den ersten Wochen nach der Kündigung auf ihm und seiner Familie lastete, war riesig. "Wir konnten nachts nicht mehr schlafen, es lief alles aus dem Ruder."
Der betroffene Pflegedienst AIMAcare betreut rund 200 Patienten in den Landkreisen Würzburg und Miltenberg sowie im Main-Tauber-Kreis, rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählt das Unternehmen. Zu wenig, um die enorme Nachfrage zu decken. Aktuell gebe es allein im Bereich der Würzburger Touren vier offene Stellen, sagt Leiter und Geschäftsführer Benjamin Wülk. "Der Personalmangel ist deutlich spürbar."
Die Folge: "In der Vergangenheit mussten wir einigen Patienten kündigen oder die Versorgung beenden, da es personell durch eine hohe Ausfallquote nicht länger zu stemmen war", sagt Wülk, der selbst Pflegefachkraft ist. Es gebe einfach viel mehr Patienten als Pflegedienste versorgen könnten. Zudem steige der Aufwand, da auch schwerstkranke Pflegebedürftige so lange wie möglich zu Hause bleiben wollten. Auch drei Jahre Corona-Pandemie hätten die Probleme seiner Branche verschärft.
Trotzdem, sagt Wülk, habe man versucht, so wenig Kündigungen wie möglich auszusprechen, so wenig Angehörige wie möglich zu belasten. "Uns geht es mit so einer Kündigungssituation sehr schlecht", sagt Wülk. Die Lage sei jedoch "mehr als schwierig und wir stehen hier mit dem Rücken zur Wand".
Uwe und Bianca Herold wussten um den Notstand in der Pflege. Natürlich. Mit einer Kündigung gerechnet hatten sie dennoch nicht. "Wir waren absolut zufrieden – und plötzlich war es vorbei", sagt Bianca Herold. Sie führte unzählige Telefonate, fragte bei zig Pflegediensten an. Erfolglos. Es hagelte Absage auf Absage. In der Not suchten die Herolds noch einmal das Gespräch mit AIMAcare. Sie schilderten ihre Angst, Tränen flossen. Am Ende stand die Zusicherung, zumindest die Pflege am Morgen fortzusetzen, es irgendwie möglich zu machen.
Ohne professionelle Hilfe ist der Alltag für viele pflegende Angehörige nicht zu schaffen
Einige Wochen lang kämpfte sich die Familie ohne Unterstützung am Abend und in der Nacht durch, die Mehrbelastung zehrte schnell an den Kräften. "Man hat gemerkt, dass es meiner Frau immer schlechter ging", sagt Herold. Ein Kollege habe ihn dann auf einen Pflegedienst hingewiesen, der zufällig freie Plätze hatte und die Pflege am Abend übernehmen konnte. "Es war unglaubliches Glück. Wir sind den Johannitern, die mich mit ihrem Pflegedienst nun unterstützen, mehr als dankbar." Bianca Herold nickt und reicht ihrem Mann die Kaffeetasse, selbstverständlich, wie immer.
"Meine Frau würde nie etwas sagen, aber man merkt, dass sie sich aufarbeitet", sagt Herold leise. Ja, auch die Kinder würden ihn im Notfall so weit wie möglich unterstützen. Aber sie stehen selbst mitten im Berufsleben, "somit ist das natürlich nur bedingt schaffbar". Die Folge: "Ich bin auf die professionelle Pflege angewiesen" – fällt diese weg, bricht der Alltag seiner Familie zusammen.
Gelegentlich sogar bis 22:00 Uhr, die gesetzlichen Ruhepausen werden einfach missachtet.
Wer möchte schon gerne so arbeiten?
Der Gesetzgeber könnte ganz einfach geteilte Dienste verbieten und dies natürlich auch kontrollieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass dann wieder mehr Pflegekräfte in der ambulante Pflege arbeiten.
Mit viel Sarkasmus könnte man jetzt sagen: Dann selber schuld. Aber das wäre zu allgemein und unangebracht. Denn oft könne n die eigenen Angehörigen nicht helfen, weil das Feld der Pflege zu komplex ist und es immerhin um Menschen geht.
Das Problem istdoch vielmehr der fehlende Generationenvertrag bzw. dessen Erfüllung.
Eltern kümmern und sorgen sich um ihre Kinder - ein Leben lang. Und was machen die Kinder (nicht alle!): sie leben für ihren Beruf, ihr Hobby, ihre Reisen und haben für ihre Eltern keine Zeit.
Und dann bleiben noch viele Hunderttausend, die bewußt auf Kinder verzichten, als Beitragszahler einen Anspruch auf Pflege erheben.
@Dezember: Da spricht nichts dagegen. Im Gegenteil: Zwei ganze Pflichtjahre für Studierende und Ausbildungsunwillige!
Das würde vorallem das Bewußtsein stärken, dass Menschen keine Maschinen sind. Und die Erkenntnis, dass Mamas und Papas "Geldschoß" keine Einbahnstraße ist.
In wahrscheinlich der Mehrheit der Länder dieser Welt gibt es diese Errungenschaft nicht. Wer da Pflegefall wird und keine Familie hat überlebt nicht oder vegetiert in einem Heim das nur das Lebensnotwendigste bringt vor sich hin.
Uwe Kinstle
Regionalvorstand Johanniter
Bessere Vergütung alleine hilft nicht in bestimmten Berufen. Solange die Rahmenbedingungen nichts sind wird es kaum mehr Leute anlocken.
Dann ist das ganze auch noch völlig unflexibel. Ich kenne einen Dialysepatient im Rollstuhl, der wird 3 mal die Woche vom Fahrdienst zur Dialyse gebracht. Der hilft normal aber nicht mal beim Schuhe anziehen. Macht er wenn er nett ist, aber bezahlt wird dafür nur der Pflegedienst der wieder extra kommen muss.
Und man liest zwar viel von der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber die Tatsache, dass Pflege meist rund um die Uhr stattfindet, setzt Grenzen. Dennoch muss man als Arbeitgeber in der Pflege Verbesserungen schaffen, z. B. durch auch einrichtungsübergreifende Springerpools, Dauernachtwachen (wenn man sie denn findet), Übernahme bzw. Beteiligung an Berufsunfähigkeitsversicherungen etc. Aber da bieten viele ja schon einiges. Es fehlt aber noch größerer Druck auf die Politik, die z. B. durch einen frühzeitigen, abschlagsfreien Renteneintritt nach x-Jahren beruflicher Pflege die Attraktivität des Berufs steigern könnte und eben auch, unter 1/2 erwähnte Möglichkeiten angehen muss - und sicher noch vieles mehr.
Gut, dass die MP immer wieder über solche Ereignisse/ Vorgänge berichtet.
Natürlich ändern solche Berichte nichts, sie geben aber einen Einblick in die Gründe, die zu Kündigungen von Versorgungen führen. Natürlich ist es immer das Geld und der Personalmangel. Beides kann man nur durch nachhaltige, gut durchdachte politische Entscheidungen treffen. Solche sehe ich bisher aber bei keiner politischen Partei.
Um das Gesundheitssystem zu retten, müsste man tiefgreifende Reformen angehen: Finanzierung auf alle Schultern verteilen, indem es nicht mehr bzw. nicht mit steigenden KV und PV-Beiträgen getragen wird, sondern durch Erhöhungen der MwSt. samt höhere Steuern auf Alkohol, Tabakprodukte und zuckerhaltige Sachen.
Auch muss man ernsthaft darüber nachdenken, ob nicht ein "Gesellschaftsjahr" für junge Menschen eingeführt wird, das unter anderem im sozialen Bereich abgeleistet werden kann. Die Jungen von heute sind die Alten von morgen und für die sehe ich schwarz, was gute Pflege
Das kam beim Pflegepersonal übrigens nicht so gut ab. Und ich weiß wovon ich spreche. Meine Tochter hat seit kurzem die Ausbildung abgeschlossen: sieben Tage hintereinander Dienst, was sicherlich kein Problem ist. In diesen sieben Tagen allerdings vier verschiedene Schichten (Früh-,Spät-,Nacht- und Zwischenschicht) lt. Dienstplan!!! Wie soll das Körper und Psyche aushalten? Gar nicht! Deswegen sind sie bei einer Berufsunfähigkeitsversicherung auch in der zweithöchste Eingruppierung. Wie soll sich jemand die Beiträge bei diesem Gehalt leisten können? Wäre in diesem Fall mal wirklich die Aufgabe des Arbeitgebers dafür zu sorgen, dass diese Leute anständig bezahlt werden, damit sie ihre Arbeitskraft anständig absichern können....
Dann gibt es vielleicht auch wieder mehr , die diesen Beruf erlernen wollen...
Es ist aber mittlerweile wichtiger in diesem Land, alle möglichen Einrichtungen für LBTQXY zu finanzieren, als denen Hilfe zukommen zu lassen, die sie wirklich brauchen.
Und nun fallt schön über mich her.