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Würzburg/Schweinfurt
Ambulante Pflege in Unterfranken ist am Limit: Wenn Oma oder Opa daheim nicht mehr versorgt werden können
Immer mehr ältere Menschen in der Region brauchen Pflege, die Angehörigen schaffen es oft nur mit Unterstützung von ambulanten Diensten. Und wenn die ausfallen?
Über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden daheim versorgt – ohne die ambulanten Dienste würde es nicht gehen. Aber auch ihnen fehlt das Personal.
Foto: Tom Weller, dpa | Über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden daheim versorgt – ohne die ambulanten Dienste würde es nicht gehen. Aber auch ihnen fehlt das Personal.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:24 Uhr

Die Schilderungen sind dramatisch. Weinende Angehörige, die tagelang ambulante Pflegedienste abtelefonieren, um irgendwie Hilfe bei der Versorgung von Mutter oder Vater zu bekommen. Enttäuschung, Frust über all die Absagen – mit der immer gleichen Begründung: "Uns fehlt das Personal, wir schaffen es nicht mehr." Oder: "Tut uns leid, die Strecke ist zu weit." Wer sehr ländlich oder abgelegen wohnt, hat schlechte Karten. Zu zeitintensiv, zu teuer sind die Anfahrten. Ambulante Pflege, quo vadis?

Über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden daheim versorgt. Und dabei kann sich urplötzlich ein Riesenproblem auftun – dann nämlich, wenn ambulante Pflegedienste von sich aus die Verträge kündigen. In größerem Stil geschehen im vergangenen Jahr bei der Diakonie in Schweinfurt oder 2019 mit Schließung der BRK-Sozialstation in Würzburg. In Einzelfällen kommen Kündigungen immer wieder vor.

Wegen Personalnot musste zuletzt eine Sozialstation der Caritas im Landkreis Würzburg die Reißleine ziehen und aus Verträgen aussteigen. Kann der pflegebedürftige Mensch daheim nicht mehr versorgt werden, bleibt am Ende nur der Umzug ins Pflegeheim. Wenn man einen Platz findet. Die Wartelisten werden immer länger.

Wobei sich der Druck wechselseitig verstärkt, wie eine stichprobenartige Umfrage dieser Redaktion bei gemeinnützigen Trägern in Unterfranken ergab. Heißt einerseits: Wo die Pflege daheim wegbricht, kommen mehr Anfragen an die Heime. Für die Johanniter Unfallhilfe kennt Regionalvorstand Uwe Kinstle das Problem nur zu gut. Angehörige versuchten zunächst meist alles, damit die Seniorinnen und Senioren in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. Der Gang ins Heim, sagt Kinstle, "ist der letzte Schritt."

Wie stationäre und ambulante Pflege zusammenhängen

"Immer mehr versuchen über 'Beziehungen', noch irgendwo einen Platz zu ergattern", berichtet Ulrike Hahn, bei der AWO Unterfranken verantwortlich für den Bereich Senioren und Rehabilitation. Vielerorts stünden Betten leer, weil die vorgeschriebene Fachkraftquote nicht erfüllt wird oder einfach zu wenig Pflegekräfte verfügbar sind. Umgekehrt wächst dadurch der Druck auf die ambulanten Versorger: Es gebe mehr Anfragen von Angehörigen, die schlicht keinen Pflegeplatz im Heim finden, heißt es von der Caritas in Würzburg.

"Es fehlen Kräfte an allen Ecken und Enden."
Uwe Kinstle, Regionalvorstand der Johanniter Unfallhilfe

Wo man hinhört: Alle befragten Träger in der Region sprechen von "Verzweiflung" – vor allem bei Angehörigen, und auch bei den Pflegediensten selbst. Sie würden gerne helfen, müssen aber reihenweise passen, weil die Touren sonst nicht mehr zu stemmen wären. "Es fehlen Kräfte an allen Ecken und Enden", so Kinstle. Kündigungen bestehender Pflegeverträge, heißt es bei den Verbänden, seien die Ausnahme. In Serie hagelt es dagegen Absagen für Neuverträge, manche haben einen generellen Aufnahmestopp verhängt.

Man kann auch Glück haben: Wer keine allzu intensive Pflege braucht und örtlich gut in die Tour eines Pflegedienstes passt, findet noch am ehesten Berücksichtigung. In einem Brandbrief an Abgeordnete sprach der Gottfried Bindrim, geschäftsführender Leiter der Caritas-Sozialstation St. Josef in Schweinfurt, von einer "Pflege-Triage". Und wenn man Hilfesuchenden am Telefon absagen muss, werde man teilweise "aufs Übelste am Telefon beleidigt".

Tägliche Absagen: "Feinfühliges Vorgehen" gegenüber Angehörigen

Sechs bis acht Anfragen für eine ambulante Pflege müssen die Caritas-Stationen allein in Würzburg jeden Tag ablehnen. Da brauche es ein "feinfühliges Vorgehen", sagt Eva-Maria Pscheidl als Bereichsleiterin Pflege und Betreuung im Würzburger Caritasverband. Die Reaktionen der Anrufenden fallen recht unterschiedlich aus, es überwiege die Verzweiflung. Auch Unverständnis sei an der Tagesordnung: "Sie wissen zwar vom Personalmangel in der Pflege – aber wenn man selber in einer Notsituation ist, ist es oft schwer auszuhalten." 

Weiteres Problem: Die Leistungen ambulanter Dienste werden mitunter nur allzu dürftig von den Pflegekassen vergütet. "Etwa vier Euro können wir für eine Anfahrt abrechnen", erklärt Uwe Kinstle von den Johannitern. Kaum ein Handwerker würde sich dafür ins Auto setzen. Die Versorgung alter Menschen, sagt der 57-Jährige, sei kein Geschäftsmodell.

Aufwand und Kosten steigen, ebenso die gesetzlichen Anforderungen – trotz Personalnot. Der Druck wachse sowohl in der stationären wie ambulanten Pflege, heißt es vom Arbeiter-Samariter-Bund. Michael Holzwarth, Geschäftführer des Regionalverbandes Würzburg-Schweinfurt, warnt: "Es ist absehbar, dass das System nicht mehr lange zukunftstragend ist, sollten sich die Rahmenbedingungen nicht ändern." 

Auf Tour mit Bettina Kessler vom ambulanten Pflegedienst der Sozialstation Sankt Kilian in Mellrichstadt. Dort können derzeit noch alle Anfragen bedient werden.
Foto: Fabian Gebert | Auf Tour mit Bettina Kessler vom ambulanten Pflegedienst der Sozialstation Sankt Kilian in Mellrichstadt. Dort können derzeit noch alle Anfragen bedient werden.

Auch kleinere, private Pflegedienste berichten über eine sich zuspitzende Situation. Sie können sich vor Anfragen kaum mehr retten, kommen teilweise kaum mehr über die Runden. Dazu Formulare über Formulare – massiv ist die Kritik an der überbordenden Bürokratie. Von der versprochenen Entlastung sei nichts zu spüren, klagte jüngst ein Pflegedienst aus dem Spessart gegenüber dieser Redaktion.

Wegen Personalmangel kann die AWO in der ambulanten Pflege keine neuen Touren eröffnen. Und die vorhandenen versuche man so effektiv wie möglich zu fahren, sagt Bereichsleiterin Ulrike Hahn. Wo möglich, werden Angehörige bei der Pflege miteingespannt. Damit reduziert sich der Aufwand für den Pflegedienst und es können mehr Menschen versorgt werden. Aber: "Bei Klienten, die alleine leben, geht das nicht", schränkt Hahn ein. 

Und die Alternativen? Obwohl häufig überlastet, brauchen Angehörige mehr als früher Koordinationsgeschick. Wo ein einzelner Pflegedienst nicht mehr alle Aufgaben übernimmt, ist die Einbindung mehrerer Akteure gefragt. Eng sei es überall, sagt Pscheidl. Aber man könne es bei Nachbarschaftshilfen, Pflegestützpunkten, Vermittlungsstellen für Kräfte aus dem Ausland, privaten Hauswirtschaftsdiensten, Tagespflegen oder eben auch in den Heimen probieren.

"Wo bleibt ein großer Gipfel für die sozialen Berufe im Kanzleramt?"
Sonja Schwab, Leiterin Soziale Dienste im Caritasverband für die Diözese Würzburg

Für viele Pflegebedürftige und Angehörige ist das ein schwacher Trost. Sie fühlen sich allein gelassen mit ihrer Situation. Eine "unglaubliche Verunsicherung und viel Angst, wie es weitergehen kann" beobachtet Sonja Schwab. Sie leitet die Abteilung Soziale Dienste beim Caritasverband für die Diözese. Das ganze System, sagt die gelernte Kinderkrankenschwester, sei "sehr fragil". Sie kennt die Abhängigkeiten, den Teufelskreis. Beispiel: Kann der ambulante Dienst am Morgen die Grundpflege nicht mehr leisten, können die Betroffenen auch nicht in die Tagespflege. Bedeutet mehr Einsamkeit, mehr Belastung für die Angehörigen.

Stärker noch als bisher müsse man das Thema Prävention und Reha in den Blick nehmen, mahnt die Expertin: "Was können wir tun, dass Menschen möglichst spät pflegebedürftig werden?" Und dann spricht aus ihren Worten auch Wut. Auf die schlechte Finanzierung, auf die Untätigkeit der Politik. Pflege sei eine Frage des Gemeinwohls. Sie kann nur eindringlich appellieren: "Wo bleibt ein großer Gipfel für die sozialen und pflegenden-helfenden Berufe im Kanzleramt?"

 
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  • Franken23
    Wenn nur genug Geld für die Pflege der alten, gebrechlichen Menschen da wäre. Hier muss endlich ein staatliches Umdenken stattfinden.
    Wohin fließen denn die ganzen Gelder, es müssen andere Priorisierungen vorgenommen werden. Es kann doch nicht sein, dass mit hilfsbedürftigen, alten Menschen so umgegangen werden muss. Ist das unsere ach so tolle Zivilisiertheit?
    Wenn schon ein halbes Pfund Butter im Supermarkt 3,99 Euro kostet, wer soll denn dann noch die Alterspflege bezahlen können?
    Da läuft doch gehörig was schief!
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  • MedDeeg@web.de
    Zitat dpa-Artikel heute:

    ...."An qualifiziertem Personal mangelt es offenbar nicht: Wie aus einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Sommer hervorging, könnten rechnerisch mindestens 300.000 Vollzeitstellen in der Pflege durch Rückkehrer und Aufstocker besetzt werden, vorausgesetzt, die Arbeitsbedingungen entwickelten sich zum Besseren."....

    Das Problem ist, dass die Arbeitgeber v.a. auf billige Arbeitskräfte setzen, der eklatante Personalmangel bspw. in der Behindertenhilfe wird mit FSJlern, Schülern, Zeitarbeitskräften geflickt. Wenn dann noch Angehörige und Eltern, ebenfalls hochbelastet, einspringen, kann man die Fassade weiter aufrechterhalten.

    Es ist wie überall: qualifizierte und hochmotivierte Fachkräfte auf der Arbeitsebene, die sich nicht wegducken und Missstände klar benennen, werden von sog. Führungskräften ausgespuckt, die kein Interesse daran haben, dass Missstände und Fehler benannt werden.
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  • Franken23
    Jeder Mensch sollte in Würde alt werden dürfen und vor seinem Tod würdevoll gelebt haben dürfen. Keine schönen Aussichten für alle.
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  • MedDeeg@web.de
    Das Gesundheits- und Pflegesystem ist zu einem Markt verkommen, auf dem sich zum einen Kriminelle tummeln, die sich ungeniert bedienen und die einen Nimbus als "christliche Wohlfahrt" ausnutzen, ebenso die fehlende Kontrolle der Behörden. Hier sind Staatsanwaltschaften, Polizei und Gerichte gefragt.

    Auf der anderen Seite werden strukturell und systematisch Menschen ausgenutzt, die unter teils unsäglichen Bedingungen - v.a. auch vom Arbeitgeber geschaffen - zu kleinem Geld das System am Laufen halten, weil sie den Menschen vor Ort helfen wollen, sich idealistisch und menschenfreundlich verhalten.

    Und wie der Artikel deutlich zeigt: Betroffene und Helfer werden gegeneinander ausgespielt, das führt zu Aggressionen und verursacht und verschärft Konflikte - an den Ursachen wird nichts geändert.
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  • Dieses Dilemma ist von der Politik bewusst in Kauf genommen. Ich bin deshalb in ein Land ausgewandert, in dem Betreuung zuhause dadurch möglich und bezahlbar ist, dass "domestic worker", meist aus Entwicklungsländern, vom Mindestlohn ausgenommen sind. Sie erhalten ein Gehalt, das mit den Mitteln der Pflegeversicherung zu bestreiten wäre (http://www.moi.gov.cy/moi/crmd/crmd.nsf/All/5314ED0D3F68CA9EC2257D2C003A4DC2?OpenDocument). Das mag wenig scheinen, ist aber für jemanden aus z.B. Sri Lanka sehr viel besser, als zuhause obdachlos zu sein und zu hungern. Das scheint mir das kleinere Übel im Vergleich zur jetzigen Situation, in der einerseits potentielle Haushalts/Pflegehilfen in ihrem Herkunftsland und Pflegebedürftige in D in Heimen vegetieren (oder ganz unversorgt sind). Als ich diesen Vorschlag dem SPD-Abgeordneten, Herrn Rützel, unterbreitet habe, hat er ihn als versuchte Ausbeutung zurückgewiesen.
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  • MedDeeg@web.de
    Das ist nicht nur Ausbeutung sondern auch verfassungswidrig.
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  • dietmar@eberth-privat.de
    Das Thema ist (leider) nicht neu
    https://www.pflegen-online.de/was-die-groko-fuer-die-altenpflege-plant

    Was macht die neue Regierung? Vermutlich SPD und Grüne wollen und FDP blockt?
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  • Gegen welchen Artikel der Vefassung soll es denn verstoßen?
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  • saaleufer
    Peinliches Schweigen der Verantwortlichen in den Ministerien, Pflegebevollmächtigten, Betroffenen.....ungeheuerlich!
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