
Hohe Austrittszahlen, Missbrauchsvorwürfe, Aufgabe von Immobilien - gleichzeitig verwurzelt, prägend, Säule für karitative Angebote und für viele Menschen weiterhin nicht wegzudenken. Wie ist es um die Kirche in der Region bestellt? Dieser Frage gingen Ella Knigge, 26, und Leon Kaessmann, 22, während einer dreimonatigen Hospitanz in der Schwerpunktredaktion der Main-Post im Rahmen ihrer Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule nach.
Bei insgesamt 25 Ortsterminen in der Region sprachen sie mit Dutzenden Menschen aus dem kirchlichen Umfeld. Ergebnis ist ein vierteiliger Podcast mit dem Titel "Kirche ade?", der am 16. Januar veröffentlicht wird. Im Interview sprechen sie über ihre Zeit in Unterfranken und ihren Blick auf die Kirche.
Leon Kaessmann: Es hat Spaß gemacht, sich komplett neu in etwas einzuarbeiten. Und weil es für uns ein neues Thema war und wir die Region nicht kannten, konnten wir das Projekt ganz unbefangen angehen, mit einem frischen Blick.
Ella Knigge: Total. Ich fand es auch eine richtig verrückte Art, eine Region kennenzulernen. Also über diesen einen ganz spezifischen Blickwinkel.
Knigge: Weil die Kirche überall war. Wir waren für unsere Recherche bei Landräten, in Kitas, in Jugendtreffs, in Schweinfurt, wo eine Art mobile Kirche durch die Stadt gefahren wurde, wir haben Straßenumfragen gemacht. Da hatten wir Kontakt zu ganz vielen Menschen an unterschiedlichen Orten.
Kaessmann: Auf der anderen Seite war es aber schon immer eine bestimmte Art von Mensch, mit der wir zu tun hatten. Es gibt zwar im kirchlichen Umfeld mehr Leute, als wir gedacht hätten, aber es waren eben doch viele, viele ältere Menschen, weniger junge...
Knigge: ...und viele Männer, wenige Frauen.
Kaessmann: Wie stark der Bezug zur Kirche bei den Menschen in der Region doch noch ist, wie wichtig ihnen das Thema ist. Und wie gläubig einfach auch noch viele Menschen sind. Wenn man wie ich anders aufwächst, verliert man das Gefühl dafür, wie wichtig Menschen ihr Glaube sein kann und wie viel Kraft und Lebensenergie sie daraus schöpfen.
Knigge: Ich fand auch spannend, dass es für viele ein so emotionales Thema ist und wie optimistisch viele sind. Wenn man von außen auf die hohe Zahl der Kirchenaustritte schaut, könnte man sich ja Sorgen um die Kirche machen. Aber alle, mit denen wir gesprochen haben, beobachten diese Entwicklung relativ gefasst. Viele sehen es wie Bischof Franz Jung, der sagt, wir müssen dem eben ins Auge sehen. Oder wie Regionalbischöfin Gisela Bornowski, die etwa sagt, naja, wir sind ja immer noch ganz viele.
Kaessmann: Es war keine Panik zu spüren, Menschen aus der Kirche - das war mein Eindruck - haben es sich eher etwas schöngeredet. Der Mitgliederschwund wurde immer als eine Entwicklung begriffen, die sich irgendwann schon wieder umkehrt.
Knigge: Genau. Es hießt oft, es habe schon immer mal so Phasen gegeben, wo sich die Leute von der Kirche entfernt haben. Manchmal klang es wie beim Klimawandel: Es gab immer mal wärmere Perioden, und dann wurde es wieder kälter...
Kaessmann: Wir erzählen an vielen kleinen Beispielen, welche Herausforderungen es in der Kirche gerade gibt oder welche Probleme entstehen, wenn Kirche verschwindet. Da finden sich wahrscheinlich viele Menschen wieder und erkennen, das, was in meiner Gemeinde passiert, ist Teil einer größeren Entwicklung.
Knigge: Ich glaube aber, dass der Podcast auch für Menschen, die nichts mit Kirche am Hut haben, interessant ist. Sie erfahren, was tatsächlich mit einer ganzen Region - zu der ja alle Menschen gehören, ob in der Kirche oder nicht - passiert, wenn eine Kirche verschwindet oder die Mitgliederzahlen weiter so stark sinken.
Kaessmann: Auf jeden Fall. Ich habe erfahren, wie wichtig Menschen Kirche und Glaube sein können. Da blicke ich jetzt nicht mehr mit so einem leicht überheblichen Blick drauf.
Knigge: Ich bin während der Produktion des Podcasts aus der Kirche ausgetreten. Den Gedanken hatte ich zwar schon länger. Ich habe in der Zeit aber noch mal gemerkt, welches Selbstverständnis in der Kirche vorherrscht. Mein Bild von den Menschen, die in der Kirchenhierarchie oben stehen, hat sich eher bestätigt. Aber die Menschen in den Gemeinden vor Ort und was es bedeutet, zum Beispiel katholisch aufzuwachsen - das kann ich jetzt auch wertschätzen, weil ich sehe, was es den Leuten gibt. Andererseits hat sich aber auch mein Blick auf die evangelische Kirche verändert: Das Thema Missbrauch war für mich vor allem immer ein katholisches Thema. Jetzt habe ich gesehen, wie groß die Probleme da auch in der evangelischen Kirche sind.
Knigge: Es ist schon bemerkenswert, wie viel der deutsche Sozialstaat auf kirchliche Träger abwälzt und sich darauf verlässt, dass es weiter funktioniert. Das war mir nicht so bewusst, dass die Kirche da eine so große Rolle spielt. Ich denke, man müsste es langsam mal angehen, sich bei Kitas oder in der Pflege ein bisschen unabhängiger zu machen, vielleicht mehr auf andere, freie Träger setzen. In dem Bereich gibt es ja schon jetzt viele kleine Brände - die Kirche mit ihren strukturellen und finanziellen Problemen, dazu der Personalmangel.
Kaessmann: Zwei Drittel der Kitas in Unterfranken werden von der Caritas betrieben. Wenn sich die Kirche hier zurückziehen würde, hätten wir ein riesiges Problem. Ich glaube, das ist vielen nicht bewusst.
Der Podcast "Kirche ade?" ist ab 16. Januar hier zu finden: www.mainpost.de/thema/podcast
vielen Dank für Ihren Kommentar. Wir wollen mit dem Podcast einen Blick auf die Lage der Kirche in der Region werfen. Keine Stimmungsmache, sondern ein umfassendes Lagebild, bei dem viele Menschen zu Wort kommen. Von der Basis bis zum Bischof/Bischöfin. Lassen Sie doch den Podcast auf sich zukommen, hören Sie gerne einmal rein. Vielleicht sind Sie mit dem Ergebnis ja zufriedener, als Sie es gerade erwarten.
Viele Grüße aus der Redaktion,
Benjamin Stahl