Sehr geehrte Regionalbischöfin Bornowski,
Ende November haben wir in einem Interview über das Thema Missbrauch in der evangelischen Kirche gesprochen. Sie wirkten bei meiner Frage nach dem Ausmaß der sexualisierten Gewalt keineswegs beunruhigt. Sie betonten, Sie hätten in ihrer fast zehnjährigen Amtszeit keinen einzigen Pfarrer wegen eines Missbrauchsvorwurfs in Ihrem Kirchenkreis Ansbach-Würzburg suspendieren müssen.
Sie erwähnten lediglich einen Erzieher in einem Kindergarten in Schweinfurt, der sofort aus dem Dienst genommen worden sei. Und zum 2019 bekannt gewordenen Fall eines Logopäden, der in einer Würzburger Einrichtung zahlreiche Kinder schwerst missbraucht hatte, sagten Sie, dass es sich bei dem Täter um keinen kirchlichen Mitarbeiter gehandelt hatte.
Missbrauchsvorwürfe in Ihrem Kirchenkreis, in der Landeskirche Bayern? Das schien kein größeres Problem für Sie zu sein. Sehr verwundert zeigten Sie sich beim Hinweis, dass es seit Jahren heißt, die evangelische Kirche hinke der katholischen bei der Aufarbeitung hinterher. "Ich verstehe nicht, woher diese Ansicht kommt", erwiderten Sie.
Missbrauchsstudie veröffentlicht: Nur scheinbar die sicherere Kirche
Verstehen Sie es jetzt, nachdem in dieser Woche die Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlicht wurde? Können Sie sich weiter allein auf die "gute Bilanz" in Ihrem Kirchenkreis zurückziehen? Auf die laut Ihren Worten bayernweit seit Jahren etablierten Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene?
Seit Donnerstag steht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) heftig in der Kritik. Das Ausmaß der sexualisierten Gewalt ist weit höher als vermutet. Das Ergebnis der Studie: mindestens 1259 Beschuldigte und 2225 Betroffene seit 1946. Zuvor ging die EKD von 858 Betroffenen aus.
2010 wurde der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bekannt. Seither hat sich die evangelische Kirche zurückgelehnt und den Eindruck erweckt, sie sei die bessere Kirche. Sie hat zugeschaut, wie der Skandal die katholische Kirche überrollte. "Wir haben ja kein Zölibat", war ein Argument dafür, dass es in der evangelischen Kirche sicherer sei für Kinder und Jugendliche. Weit gefehlt, Frau Regionalbischöfin.
Die evangelische wie die katholische Kirche: Institutionen des Verschleierns
Unfassbar ist zudem, dass es die EKD mit der Aufarbeitung nicht ernst zu meinen scheint. Übermittelt zur Auswertung wurden meist nicht – wie vereinbart – die aussagekräftigen Personalakten, sondern lediglich Details aus Disziplinarakten über Beschuldigte. Die Ausrede: Personalmangel. Nur eine von 20 Landeskirchen habe den Forschern Personalakten vorgelegt, hieß es. Sollte nicht herauskommen, wie viele Fälle es tatsächlich gibt?
Den Forschern war somit klar, dass die ermittelten Zahlen nicht einmal die Spitze des Eisbergs darstellen. Laut einer Hochrechnung auf Basis der wenigen Personalakten könnten es laut den Forschern bundesweit 9355 Kinder und Jugendliche sein, die seit 1946 von evangelischen Vertretern sexuell missbraucht worden sind.
Frau Bornowski, die Aufarbeitung ist längst nicht so gut, wie Sie mir bei unserem Gespräch vermitteln wollten. Laut dem Studienleiter sind die jetzt veröffentlichten Fälle unzureichend erfasst. Beim Thema Missbrauch ist die evangelische Kirche also nicht die offenere, die transparentere: Sie ist ebenfalls eine Institution des Verschleierns.
Sexualisierte Gewalt "eine Form der Kreuzigung"
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs, sprach bei der Vorstellung der Studie von der "perfiden Gewalt" der Täter, von eklatantem Versagen von Kirche und Diakonie. Sie, Frau Bornowski, haben 2022 in Schweinfurt bei der Eröffnung der Ausstellung "Nein zu Missbrauch und Gewalt" gesagt, sexualisierte Gewalt sei "eine Form der Kreuzigung". Solche Taten würden Leben, Seelen zerstören.
Als langjährige Ansprechpartnerin der Landeskirche für Seelsorgegespräche haben Sie sicher erschütternde Einblicke erhalten. Nur so lässt sich Ihre Aussage von damals verstehen, dass Verdrängen, Verleugnen und Beschwichtigen nicht helfen würde. Es sei schwer für Betroffene, zu sagen, dass ihnen Gewalt angetan wurde. Opfer würden oft als Nestbeschmutzer dastehen.
Das hört sich nicht anders an als in der katholischen Kirche. Auch dort fühlten und fühlen sich Betroffene als höchst lästige Bittsteller. Dies bestätigte mir erst vor wenigen Tagen wieder ein Betroffener am Telefon.
Beim Thema Missbrauch bislang Kosmetik
Frau Bornowski, was die evangelische Kirche bislang beim Thema Missbrauch unternommen hat, war vor allem eines: Kosmetik. Sie installierten zwar Ansprechstellen für Betroffene oder ein Präventionsteam. Aber eine Chance zu echter Aufarbeitung hätte die Studie geboten, die jedoch die Landeskirchen durch ihre katastrophal ablehnende Haltung gegenüber den Forschern torpediert haben.
Für Ihren Kirchenkreis, Frau Regionalbischöfin, wünsche ich Ihnen, dass Sie bei unserem nächsten Gespräch wieder sagen können, dass Sie keinen Täter suspendieren mussten.
Mit freundlichen Grüßen,
Christine Jeske, Redakteurin
in GMX gelesen, und da können auch alle Kirchenkritiker gerne nachlesen, die bei GMX
ihr Email-Postfach haben:
ehem. Trainer eines Fußball-Vereins in München, Name des Vereins wurde unter Geheimhaltung nicht genannt, hat bei über 800 Missbrauchsfällen Kinder und Schutzbefohlene mißbraucht, also nicht nur in Kirchen, sondern auch in Vereinen, gibt
es solche Dreckschweine.
welche Frösche würden selber ihren Teich trockenlegen?
Das Thema "Missbrauch" scheint doch immer wieder irgendwo auf, und da ist bzgl. der moralischen Gesinnung vmtl. keine Personengruppe irgendwie "besser" als eine andere. Demzufolge tendiert man dazu, schon mal allgemein für das Ansehen des eigenen Vereins und aber speziell, wenn es eine/n selber betreffen könnte, zu relativieren, vertuschen oder unter den Teppich zu kehren.
Insofern verwundert es mich kein Stück, wenn interne Untersuchungen oder von der jeweiligen Körperschaft selbst in Auftrag gegebene externe Studien extrem wenig bis keinen Handlungsbedarf zutage fördern. Es müsste mMn eine unabhängige Stelle geben, die von sich aus solchen Anschuldigungen gezielt nachgeht, wenn hinreichende Hinweise vorliegen.
die aus der Kirche ausgetreten sind, aber da kann man ja schön den Moralapostel spielen und sagen mit dem Haufen möchte ich nichts mehr zu tun haben. Dann bitte auch die Klappe halten.
Gilt dieses Dogma aus der Krabbelkiste auch für Sekten wie Scientology, für mafiöse Strukturen, Kartelle, für Aussteiger extremistischer Gruppen, für Edward Snowden....?
Aufklärung und Verbrechensbekämpfung basiert zu einem guten Teil auf "Kommentaren" von Menschen, die Strukturen und Systeme von innen her kennen.
Desweiteren dürfen Sie davon ausgehen, dass auch Menschen, die Opfer sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche wurden, mittlerweile dort "ausgetreten" sind!
"Klappe halten" ist da ein bemerkenswerter Ratschlag, der hier in eine ganz andere Richtung weist.
Möchte auch nicht wissen, wieviel da unter den Tisch gekehrt wird. Wenn ich aus einem Verein ausgetreten bin,
Was heute interessieren sollte ist die Gegenwart und die Zukunft.
--> " Und da gibt n ihrer fast zehnjährigen Amtszeit keinen einzigen Pfarrer wegen eines Missbrauchsvorwurfs in Ihrem Kirchenkreis Ansbach-Würzburg suspendieren müssen." Das beruhigt. Liebe Frau Jeske - zurück zur Überschrift: ist die evangelische Kirche nach den Zahlen der letzten 10 Jahre "besser" als die katholische Kirche. ? Dabei interessiert mich und ich denke die Mehrheit der Bürger tatsächlich nicht wieviel Mißbrauch es seit der letzten Inquisition oder von 1946 bis 1950 gab, sondern in diesem Jahrhundert. Das wäre eine Information wert.
Frau Bornowski? Wie fühlt man sich in einem solchen Amt, wenn man der Verantwortung und den Pflichten, die mit Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen einhergehen, so gar nicht gerecht geworden ist - und dabei "ertappt" worden ist....?
Ja, das ist die treffende Formulierung!
Auch die Evangelische Kirche hat letztlich ein Führungsproblem, wie alle auf Autoritäts- und Hierarchiedenken aufgebauten Institutionen, wo der Machtmissbrauch quasi mit "eingebaut" ist.
Wenn es Ärger und Beschwerden gibt, folgen die üblichen Reflexe: mauern, blockieren, intern die Reihen schließen, nach außen: bagatellisieren, mit Nelbelkerzen und Kosmetik täuschen und vertuschen.
Die Methoden sind so alt wie die Kirchen.
Die Frage ist für mich aber auch: warum haben diese dreisten Täuschungen und diese Kosmetik bei den Medien offenbar so lange verfangen, Frau Jeske?
Ebenso das Grundgesetz, zumindest in der Theorie: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich".
Glaubt jemand ernsthaft, da käme ein anderes Ergebnis raus?
Über 14.000 jedes Jahr vom Deutschen Kinderschutzbund dokumentierte Fälle von Missbrauch sprechen hier Bände!