
Die vertraulichen Gespräche führt Alexander Schraml meist am Wochenende. Dann ist es ruhig in seinem Büro am Hubland in Würzburg. Seit Mitte September 2020 ist der Jurist unabhängiger Ansprechpartner für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Diözese Würzburg. Und seit dem 11. Februar ist er mehr oder weniger allein dafür verantwortlich. Seine Kollegin Sandrina Altenhöner, die bereits seit drei Jahren Ansprechpartnerin für Betroffene ist, befindet sich momentan noch in Elternzeit.
Der 56-Jährige freut sich, dass die Juristin bald wieder ins Team zurückkehren wird. Denn einige Betroffene fragen gezielt nach einer Frau. Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Ruth Ebbinghaus, die dritte Beauftragte, ist laut Alexander Schraml aufgrund ihres Berufs bei therapeutischem Bedarf besonders gefragt.
"Ich habe für Entscheidungen zu sorgen", sagt Schraml. Das klingt sehr sachlich. Aber die Gespräche, die er mit den Menschen führt, haben auch eine unterstützende, eine aufarbeitende Funktion. Das spüre er immer wieder. Über 20 Kontakte hatte er bisher.
Bei nicht ganz der Hälfte der Treffen ging es um einen erneuten Antrag in Anerkennung auf Leid. Dies ist seit Jahresbeginn möglich. "Da muss in der Regel kein längeres Gespräch mehr geführt werden", sagt er, "das braucht man niemanden mehr zumuten".
Die Geschichte dieser Menschen wurde bereits erzählt, festgehalten, auf Plausibilität geprüft – und es wurden auch bereits Anerkennungsleistungen bezahlt. Aber aufgrund der von den Bischöfen höher anberaumten Schadensersatzsummen bis zu 50 000 Euro stellen Betroffene nun zum zweiten Mal Anträge – und die Bearbeitung sei meist eine Formsache, sagt der Jurist: Fragen klären, Antrag bearbeiten und an die Geschäftsstelle der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn schicken.
Es gibt auch andere Begegnungen. Menschen, die zum ersten Mal zu einem Ansprechpartner Kontakt aufnehmen, die nach langer Zeit den Mut gefunden haben, sich zu melden. "Es sind oft ältere Leute", sagt Schraml. Kürzlich hatte er ein Gespräch mit einem 76-Jährigen. Er hat sein Trauma vorher niemanden anvertraut, es jahrzehntelang in sich verkapselt.
Auch hätten sich Menschen gemeldet, die noch nicht lange im Ruhestand sind, die nun Zeit hätten, über ihr Leben nachzudenken. Wenn der Beruf nicht mehr ablenkt, die Kinder aus dem Haus sind, kommt die Erinnerung. Der Schmerz, die Wut, die Angst. Auch Scham. Der Wunsch, darüber zu reden, Hilfe zu suchen, Genugtuung zu erfahren. Wie bereitet sich der Jurist darauf vor?

Alexander Schraml, gebürtiger Oberpfälzer, ist ein viel beschäftigter Mann. Er ist seit 1998 Vorstand der Kommunalunternehmen des Landkreises Würzburg und zugleich unter anderem Geschäftsführer der Main-Klinik in Ochsenfurt und der Senioren-Einrichtungen. Zudem ist er Lehrbeauftragter und Honorarprofessor für Pflege- und Gesundheitsmanagement an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt. Und er sitzt in vielen Gremien. "Ich habe über 1000 Beschäftigte", lautet seine Antwort. "Wenn man seine Arbeit ernst nimmt und seinen Job richtig macht, führt man permanent Gespräche, das ist das Wichtigste überhaupt."
Deshalb hätte er viel Erfahrung, Menschenkenntnis, Empathie – aber auch die nötige Distanz, den Blick von außen, das Abstraktionsvermögen. "Sonst könnte ich den Menschen nicht gerecht werden." Wobei es auch das gebe, räumt er ein. Generell aber ist Schraml überzeugt: "Ich glaube aufgrund meiner langen Erfahrung, dass ich auch mit Betroffenen gut reden kann."
Wobei es vor allem erst mal ein Zuhören sei. Ein sich Zeitlassen. Schraml weiß, "dass es eine große Überwindung kostet, mit jemanden, den man nicht kennt, über erlittene Gewalterfahrungen zu sprechen". Seine Zwischenfragen stelle er erst später, wenn der Betroffene seine Worte gefunden hat. Und nach und nach werde aus dem Zuhören ein Gespräch. Einmal wollte jemand online, also per Videoschaltung mit ihm reden. Auch das ist möglich. Und eine Person habe er auch auf Wunsch an die Psychotherapeutin Ruth Ebbinghaus vermittelt.
Hat er sich beworben dafür? "Nein, der Bischof hat, nachdem mein Vorgänger, der Bamberger Richter Thomas Förster aufhören wollte, jemanden gesucht." Nicht alle, die gefragt werden, sagen ja dazu. Doch Schraml war bereit für diese verantwortungsvolle Aufgabe, "weil es sehr wichtig ist, dass es externe Ansprechpartner gibt". Der Bischof habe ihn zwar berufen, aber er sei unabhängig. Die Worte bleiben im Raum. "Der Bischof erfährt davon keine Einzelheiten", sagt Schraml. Franz Jung führt eigene Gespräche mit Betroffenen.
Schraml werde von der Bistumsleitung auch nicht eingeengt oder behindert, sagt er. "Wenn ich eine Akte haben möchte, dann erhalte ich sie umgehend." Denn bei Fällen, die erstmals zur Sprache kommen, müsse er auch ermitteln. Stimmen die Angaben? War der oder die Beschuldigte in der fraglichen Zeit in der Pfarrei oder in der Einrichtung eingesetzt? Diese Nachforschungen seien wichtig für die Plausibilitätsprüfung.

Bislang hatte der Jurist es ausschließlich mit verjährten Missbrauchsfällen zu tun. Und in den meisten lebt die beschuldigte Person nicht mehr. Weil es eben oft lange dauert, bis Betroffene reden können.
Wie steht Schraml zu den Verjährungsfristen? Sie sind zwar deutlich verlängert worden. Es gibt jedoch Forderungen, die Verjährung ganz aufzuheben – wie bei einem Mordfall. Der Jurist wägt in seiner Antwort ab zwischen dem Rechtsfrieden, der irgendwann eintreten solle, und der Genugtuung für die Betroffenen, für die es zeitlebens keinen inneren Frieden gebe. Er tendiert dazu – wie einer seiner Vorgänger, der Würzburger Strafrechtsprofessor Klaus Laubenthal -, dass es bei sexualisierten Gewaltverbrechen keinerlei Verjährungsfristen mehr geben sollte. Wer solche schweren Verbrechen begeht, sollte sich nie vor einer strafrechtlichen Verfolgung sicher fühlen.
Manchmal ist es nicht nur der zeitliche Abstand oder das plötzliche Erinnern, manchmal braucht es einen Auslöser für Betroffene, um sich einem Ansprechpartner oder einer Ansprechpartnerin anzuvertrauen. Etwa "die Vorgänge in Köln" hätten viele aufgewühlt. Schraml meint die Diskussionen um die im Herbst 2020 abgesagte Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens und die Diskussionen nach der Vorstellung des neu in Auftrag gegebenen Gutachtens im März sowie die Kritik an Kölns Erzbischof Rainer Maria Woelki.
Ein Auslöser ganz anderer Art sei der im Februar erfolgte öffentliche Aufruf von Bischof Franz Jung zur Mitwirkung im Betroffenenbeirat in der Diözese Würzburg gewesen. Diese direkte Ansprache habe einige bewogen, sich zu melden – bei Schraml. In einem Beirat zusammen mit anderen Betroffenen wollten sie nicht tätig sein, aber reden. "Zehn neue Kontakte ergaben sich allein in den vergangenen Wochen", sagt Alexander Schraml. Das jüngste Gespräch hatte er vor wenigen Tagen – wieder am Wochenende.