Das Thema "Verjährung" kann misslich sein, sagt Professor Klaus Laubenthal - für beide Seiten: für das Opfer und für den Beschuldigten. Der Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht an der Würzburger Universität war von 2010 bis 2017 der externe Ansprechpartner für Opfer sexuellen Missbrauchs des Bistums Würzburg. Der vor einem Jahr zum Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht berufene Laubenthal erläutert den juristischen Hintergrund, warum bei vielen Sexualdelikten keine Ermittlungen aufgenommen wurden - und werden.
Aktuelles Beispiel: Die im September 2018 veröffentlichte Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz hatte bislang in Bayern kaum strafrechtliche Folgen, sagt Laubenthal, und das, obwohl mehrere Strafrechtsprofessoren Anzeige gegen Unbekannt gestellt hatten. In vielen Fällen sei die Tat schlicht verjährt gewesen. Womöglich anders verhält es sich im aktuellen Ermittlungsverfahren gegen einen suspendierten Priester der Diözese Würzburg aus dem Raum Bad Kissingen. Ihm werden zwei Übergriffe auf eine Person vorgeworfen, die laut dem Leitenden Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Schweinfurt, Axel Weihprecht, "zehn Jahre zurückliegen sollen".
Klaus Laubenthal: Die Verjährung ist ein Strafverfolgungshindernis. Das heißt, von Seiten der staatlichen Strafverfolgungsbehörden bleibt ein Tatvorwurf offen. Es wird in der Sache nicht weiter aufgeklärt und auch nicht entschieden. Die Verjährung führt zu einem strafrechtlichen Vakuum.
Laubenthal: Allerdings. Das Opfer kann nicht die Genugtuung erfahren, dass der Vorwurf in einer Gerichtsverhandlung aufgeklärt wird und dass es gegebenenfalls zu einer Verurteilung des Beschuldigten kommt. Die beschuldigte Person hat wiederum keine Chance, sich vor einem Strafgericht rechtfertigen zu können, gerade wenn der Vorwurf an die Öffentlichkeit gelangt. Sie kann auch nicht freigesprochen werden.
Laubenthal: Der Gesetzgeber geht davon aus, dass nach langer Zeit der Rechtsfrieden wieder hergestellt sei. Das heißt: Die Gesellschaft schließe nach Ablauf einer gewissen Zeit mit dem Täter Frieden. Der zweite Aspekt ist: Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Opfer selbst nach sehr langer Zeit kein Interesse mehr an der Strafverfolgung hätten.
Laubenthal: Nicht immer. Das haben wir ja im Bereich Kirche und Missbrauchsvorwürfe erlebt. Betroffene hatten durchaus auch nach sehr langer Zeit zum Teil ein großes Interesse an einer Strafverfolgung.
Laubenthal: Meines Erachtens kann das bei sexuellen Kindesmissbrauchsdelikten so pauschal auch nicht gesagt werden. In der Schweiz etwa hat die Gesellschaft reagiert: Dort gab es vor einigen Jahren eine Unverjährbarkeit-Initiative. Sie sprach sich gegen die Ablehnung der Abschaffung der Verjährung bei sexuellem Kindesmissbrauch aus. Bei einer Volksbefragung war die Mehrheit für diese Initiative. So hat die Gesellschaft gegen den Willen der Schweizer Regierung und des Schweizer Gesetzgebers durchgesetzt, dass der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern unter 12 Jahren nicht verjährt. So geht es also auch!
Laubenthal: Es gibt Kollegen, die wie ich für eine Abschaffung von Verjährung bei Sexualstraftaten bei Kindern sind. Aber es geht deutschen Juristen auch um die Frage der Prozess-Ökonomie. Das heißt, es müsste dann, wenn es keine Verjährung mehr gibt, in jedem Fall ein Ermittlungsverfahren durchgeführt werden. Das ist natürlich eine zusätzliche Arbeitsbelastung. Auch für die Staatsanwaltschaften. Und es geht auch darum, dass nach langer Zeit es immer schwieriger wird, Tatvorwürfe aufzuklären. Es gibt aber Fälle, wo man das kann. Während meiner Zeit als Missbrauchsbeauftragter des Bistums Würzburg räumten zwei Priester nach Jahrzehnten ein, was Opfer ihnen vorgeworfen haben.
Laubenthal: Das stimmt. Deshalb hat sich einiges getan. Seit 2015 ruht die Verjährung bei Sexualstraftaten bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres. Laut Gesetzgeber soll diese Regelung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Entschluss, Sexualstraftaten zur Anzeige zu bringen, häufig erst nach Ende eines altersbedingten, eines familiären Abhängigkeitsverhältnisses gefasst werden kann.
Laubenthal: Ich gebe ein Beispiel aus der Praxis: Wenn ein minderjähriges Kind den Vater wegen sexuellen Missbrauchs anzeigt, dann ist es nicht selten so, dass innerhalb der Familie Druck auf das Kind ausgeübt wird. Etwa wenn die Mutter dem Kind vorwirft, es sei "schuld", dass der Familienverband zerstört würde. Das kann so weit gehen, dass der Druck so groß wird, dass Minderjährige ihre Anzeige wieder zurücknehmen, um den Familienverband zu "retten".
Laubenthal: Genau diesen Aspekt berücksichtigt der Gesetzgeber bislang nicht zureichend. Obwohl es bekannt ist, dass viele Missbrauchsopfer das Geschehen für sehr lange Zeit verdrängen. Und es dauert oft ganz erhebliche Zeit, bis die Tat, wenn denn überhaupt, wieder ins Bewusstsein gelangt, und es braucht häufig noch weiter lange Zeit, um darüber sprechen zu können - etwa im Lauf von therapeutischen Behandlungen. Wenn das Opfer endlich bereit ist, die Tat anzuzeigen und sich darüber zu äußern, dann gibt es aufgrund der Verjährung keine Strafverfolgung. Das ist die Crux. Deshalb sollte bei Taten des sexuellen Kindesmissbrauchs die Verjährung häufig gänzlich abgeschafft werden, um den Opfern künftig in diesem Deliktsbereich auch gerecht werden zu können.