Es tut weh. Das Bewusstsein, dass es nur ein Moment war, ein Unfall, die oft zitierte Sekunde, die alles verändert hat. Normalerweise funktionieren wir, unser Körper atmet, läuft, lebt, ganz automatisch. Gesundheit aber ist zerstörbar. Und Verwundbarkeit tut weh. Sind die Verletzungen schwer, wird es der Weg zurück auch. Und oft beginnt er hier, in der Früh-Rehabilitation im Juliusspital in Würzburg.
Sie sitzt im Rollstuhl am Fenster. Noch keine 20 Jahre alt. Schmal. Ein Helm auf dem Kopf, Schläuche im Körper, flankiert von Maschinen. Die Blätter draußen an den Bäumen färben sich bunt, der Wandkalender zeigt Mitte Oktober. Seit vier Wochen ist die junge Frau im Juliusspital. Der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Neurologie, Prof. Mathias Mäurer, berührt sie leicht an der Schulter. "Können Sie mich verstehen?" Der zitternde linke Arm hebt sich leicht, der Daumen geht nach oben. Die Augen bleiben starr. Mäurer nickt, lächelnd. Eine Reaktion. Er sagt: "Für uns ist das ein enormer Erfolg."
Früh-Rehabilitation beginnt häufig bereits auf der Intensivstation
Die junge Frau hat schwere Schädel-Hirn-Verletzungen erlitten. Wochenlang war sie auf der Intensivstation, wurde beatmet, künstlich ernährt, pausenlos überwacht. 24 Stunden liegend, im Bett. Bereits hier beginnt die Früh-Rehabilitation, sagt Mäurer: "Unmittelbar nach der akuten Versorgung und noch auf der Intensivstation."
Die neurologische Früh-Reha ist in Bayern der akutstationären Versorgung zugeordnet. Sie findet in spezialisierten Reha-Kliniken oder Akutkrankenhäusern statt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es im Freistaat 29 entsprechende Einrichtungen mit rund 1200 Betten. "Früh-Reha-Plätze sind rar", sagt Mäurer. Und sie sind teuer. In Frage kämen dafür nur Patientinnen und Patienten mit Perspektive auf Besserung, so hart es klinge.
Im Juliusspital unter dem Dach des Klinikums Würzburg Mitte gehören 18 Betten zur Früh-Reha. Drei davon stehen auf der Intensivstation. Es ist still hier an diesem Morgen. Keine hektisch piepsenden Monitore, keine rennenden Ärztinnen und Ärzte. Auch kein typischer Krankenhausgeruch. Chefarzt Mathias Mäurer geht mit dem Anästhesisten Karl-Werner Lorenz und der Neurologin Manuela Heuchler in das erste Patientenzimmer. Visite.
Mäurer tritt an das Bett eines Patienten. Der Mann ist in den Bergen abgestürzt. 80 Meter, schweres Schädel-Hirn-Trauma, Verletzungen an der Wirbelsäule. "Wie gut es ihm wieder gehen wird, ist noch nicht abzusehen", sagt der Neurologe. Das Wichtigste für ihn und sein Team sei zunächst, die Menschen "von den Maschinen wegzubekommen". Sie von der Beatmung zu entwöhnen, von den Narkosemitteln, das Schlucken wieder zu trainieren. Bei den allerersten Schritten zurück in ein selbstständiges Leben zu helfen.
Klassische Reha sieht anders aus. Sie trainiert Menschen, die dazu in der Lage sind. Die etwa nach Knie- oder Hüftoperationen wieder laufen üben oder nach einer Krebserkrankung Kraft schöpfen wollen. Bei der Früh-Reha hingegen sind die Patientinnen und Patienten noch immer schwerst krank. "Sie haben mit schwersten Einschränkungen der Wahrnehmung sowie körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu kämpfen", sagt Mathias Mäurer. Viele müssten in den ersten Tagen und Wochen noch beatmet werden.
Ziel: Dass die Erkrankten wieder 30 Minuten belastbar sind
"Aber schon in dieser frühen Phase beginnen wir mit der Therapie", sagt Neurologin Manuela Heuchler. Physiotherapeuten bewegen den teils gelähmten Körper im Bett, drehen die Patienten, mobilisieren Gelenke, lockern Muskeln. Ergotherapeuten setzen Reize, die das Gehirn anregen sollen. Und üben mit den Erkrankten, wieder alleine Luft zu holen.
"Das ist ein sehr langsamer Prozess", sagt Heuchler. Das große Ziel: "Wir müssen es zum Beispiel schaffen, dass die Patienten 30 Minuten am Stück fokussiert bleiben", sagt Mäurer. "Dass sie eine halbe Stunde lang belastbar sind." Es klingt banal. Und ist doch für einige Erkrankte hier unerreichbar. "Für viele Menschen, die bei uns aufgenommen werden, wird das Leben nie mehr so sein, wie es war", sagt der Chefarzt. Das Team kämpfe dafür, jedem Einzelnen Lebensqualität zurück zu geben. So viel wie irgend möglich.
Oft sind die Patienten mehrere Wochen bis Monate in der Früh-Reha. Alleine schon der Weg vom Intensivbett auf die normale Station ist lang. Denn behandelt werden vor allem Menschen mit schweren Schädel-Hirn-Traumata oder Hirnblutungen, aber auch Schlaganfällen. Längst nicht nur hochbetagte Senioren, sagt der Ärztliche Direktor. Sondern Gestürzte, Radler ohne Helm oder Unfallopfer.
Mit der jungen, schwerstverletzten Frau üben Physiotherapeuten jeden Tag. Erst im Bett, dann im Sitzen, später im Stehen. Solange der Körper selbst sich nicht halten kann, hilft ein Kipptisch, der die Patientin in die aufrechte Haltung bringt.
"Wie fit die Patienten werden, wissen wir meist nicht", sagt Stationsleiterin Petra Budig. 300 Minuten Behandlung pro Tag seien vorgeschrieben, häufig werden es mehr. Behandelt wird immer im Team. Es gibt Behandlungspläne, am Ende aber ist die Betreuung individuell.
Ein wichtiges Ziel dabei: Kontakt aufnehmen, auch ohne Sprache. Dass die junge Frau mit dem Daumen wieder Ja-Nein-Fragen beantworten kann, sei großartig, sagt Budig. Weiter geht es nun mit Ergotherapie und Logopädie, mit Buchstabentafeln, Bildern, dem Versuch, ausführlicher zu kommunizieren. Irgendwann soll die junge Frau Laute und Sprache wieder finden.
"Natürlich ist das belastend, wenn ein junger Mensch solche Verletzungen hat – da geht man mit", sagt Mathias Mäurer. Manche Schicksale berühren, auch noch nach Jahren im Beruf. Gerade wenn die Patienten länger auf der Station bleiben. "Man muss versuchen, trotzdem irgendwie Distanz zu wahren", sagt Budig. Sich emotional zu schützen – ganz geht das nie.
Deshalb ist jeder Erfolg für das Team wichtig, sagt die Stationsleiterin. Denn in der Regel gehen keine Gesunden von der Station. Es sei toll, wenn Patienten später eigenständig hereingelaufen kämen, sagt Mäurer. Das sei aber die Ausnahme. Meist sei das Ziel eine weiterführende Reha.
Für Angehörige ist der Besuch während der Früh-Reha hart
Gelingt das nicht, bleibt für die Betroffenen nur ein Pflegeplatz. "Es ist schrecklich, wenn man nicht helfen kann", sagt Petra Budig. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit quäle auch die Angehörigen. Für sie sind Besuche in der Früh-Rehabilitation hart: "Die Familie steht oft hilflos am Bett." Ihnen wird eine psychologische Betreuung angeboten. Wie aber soll man damit umgehen, dass ein Unglück, ein Unfall alles verändert hat? Dass ein geliebter Mensch so schwer verletzt ist, leidet?
Hoffnung haben die, die es von der Intensivstation hoch auf die normale Station geschafft haben. Wenigstens ein bisschen.
Für die junge Patientin bleibt der Weg noch weit. Ob sie eines Tages die Station auf eignen Beinen verlassen kann? Das könne man nicht vorhersagen, sagt Mäurer. Heilung dauert. Der Sekundenzeiger der Wanduhr tickt laut im stillen Zimmer. "Dass die Patientin auf Ansprache reagiert und den Daumen heben kann, ist ein großer Fortschritt", sagt der Neurologe. Das macht Mut, dem ganzen Team. Die Physiotherapeutin legt zwei Plüschtiere vor die junge Frau auf den Tisch. Der Arm zuckt.
Als die Ärzte und Therapeuten das Zimmer verlassen, greift die Hand nach dem braunen Teddy.